Plädoyer für Unbekanntes

■ Gelungenes Wagnis der Philharmoniker / Martin, Strawinskij und Rachmaninow

Obwohl gleich drei selten bis nie gespielte Werke auf dem Programm standen, war das siebte philharmonische Konzert am Dienstag in der Glocke gut besucht. Zu Beginn erklang die Pavane von der „Farbe der Zeit“ von Frank Martin, inspiriert durch ein Märchen des französischen „Grimm“, Charles Perrault. Das duftig instrumentierte Werk bot den Bläsersolisten zwar Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, geriet sonst allerdings etwas spröde und farblos. Um solche Musik wirklich überzeugend zum Klingen zu bringen, müßten sich die Musiker vielleicht intensiver in kindliche Märchenwelten einfühlen können.

Danach dann Strawinskijs Konzert für Solo-Klavier, Bläser, Schlagzeug und Kontrabässe: Babette Hierholzer bewältigte den vor allem rhythmisch und farblich vertrackten Solopart mühelos. Der große Melodiebogen zu Beginn des langsamen Satzes geriet so abgerundet und schön, daß man den Kontrast zu den spritzigen Ecksätzen intensiv nachempfinden konnte. Viotti und die philharmonischen Bläser musizierten brillant und unglaublich witzig. Kaum zu glauben, daß so mancher alte Zuhörer hier nicht einmal schmunzelnd das Gesicht verzog.

Sergej Rachmaninows selten aufgeführte zweite Sinfonie e-moll op. 27 ist ein bedeutendes Werk der spätromantischen Orchester-Literatur. Sie liegt dem gelernten Sänger Viotti sicher besonders: Die unendlich langen Melodiebögen verlangen nach quasi sängerischer Gestaltung, und das Staatsorchester tat sein Bestes, ihrem Chef darin zu folgen. Allerdings überzeugte mich der erste Satz nicht. Viotti nahm das Haupttempo, allegro moderato, wesentlich schneller als Rachmaninow vorschreibt. Die Form konnte sich dadurch nicht recht entfalten. Bei den Rubati im Hauptthema gab es arge Probleme im Miteinander-Fühlen. Ich hatte den Eindruck, das Viotti manche Phrasen nicht aufmerksam genug zu Ende führte, weil er in Gedanken schon weiter vorn war. Auch die Tempi am Ende des Scherzo waren nicht partiturgemäß. Der Bläsersatz war klanglich nicht genügend ausbalanciert; die Hörner waren im tutti manchmal zu laut, und das Blech hatte kaum Mut zum wohlüberlegten dynamischen Differenzieren.

Insgesamt gelang dem Orchester jedoch eine würdige Interpretation, sieht man einmal vom Kopfsatz — und den kleinen, behelfsmäßigen Pfusch-Retuschen (z.B. die weggelassenen Triolen- Achtel-Überbindungen der Violinen im 1.Satz, 7 Takte nach „25“) — ab. Das innig musizierte Adagio und rasante Finale ließen allerdings kaum Wünsche offen. So dankte das Publikum mit einem langanhaltenden, begeisterten Applaus und aufmerksamerweise auch mit einem Extrabeifall für das exzellente Klarinettensolo im Adagio. Gunnar Cohrs