Kehret um — nach Balkonien!

■ Die ITB-Gegenausstellung des Ökodorfes zum Thema Zukunft des Tourismus bleibt konkrete Antworten schuldig

Schöneberg. Eigentlich eine Binsenweisheit: Wer reist, wird schuldig. Touristen tragen erheblich zur ökologischen Katastrophe dieser Welt mit bei. Zugleich werden in ihrem Namen ganze Nationen ausgebeutet, intakte Kulturen zerstört, halbe Völker in die Schmuddelprostitution getrieben und und und... Dies ist der nicht mehr ganz neue Ausgangspunkt der diesjährigen Gegenausstellung des alternativen Ökodorfes zur Tourismus-Weltmesse ITB, die derzeit am Messegelände stattfindet. Das Thema des David- gegen-Goliath-Unternehmens: »Nie wieder weg — das Ende des Tourismus?«

Wer darauf eine Antwort erwartet, wird enttäuscht. Die kleine Schau beschränkt sich aufs Altbekannte: Gezeigt werden auf Stelltafeln zunächst die Hauptreisemotive der Deutschen. 71,7 Prozent wollen laut Meinungsumfrage »zum Abschalten« in die Ferne. Ein paar Schritte weiter erfährt der ahnungslose Besucher dann, daß die Werbung der Tourismusindustrie und überhaupt Werbung allgemein bunt, falsch und verlogen ist. Und wer hätte schon geahnt, daß dahinter eine Industrie steckt, ja sogar richtige Konzerne. Und noch schlimmer: Die bitterböse Deutsche Bank und ihre nicht weniger bösen Schwestern Commerzbank und Co. kassieren ständig mit ab, wenn wir per Reisebüro gen Süden jetten. Also ab ins Alternativreisebüro. Doch auch hier erfährt der gepeinigte aufrechte Linke keine Absolution, denn auch die Alternativen haben Computer, benutzen die Buchungsnetzwerke der Konzerne und vermitteln ökologisch bedenkliche (Flug-)Reisen.

Weiter geht's mit der Abteilung Lebenshilfe. Streng im Befehlston wird es nun hochmoralisch: Umweltverträglich und sozialverträglich reist, wer 1. im Winter keinen Sommerurlaub macht, 2. keine Länder aufsucht, deren Sprache er nicht kann, 3. nicht in extrem umweltbelastete Gebiete reist, aber auch nicht 4. »letzte Paradiese« aufsucht, 5. keine ethnisch gefährdete Minderheiten abseits der westlichen Zivilisation besucht, 6. sich von Krisengebieten fernhält, 7. keine Kurzreisen in die Ferne unternimmt...

Doch damit nicht genug. Der Ökourlauber hat zudem auf sanfte Energieerzeugung, geklärte Müllentsorgung, politische Moral im Gastland, einheimische Kost, Volksnähe und auf die Übernachtung im gleichen Komfortniveau wie das der jeweilige Gastgeberbevölkerung zu achten.

Sorry, ich war voriges Jahr in Amsterdam — und dies ohne ein Wort Niederländisch zu sprechen. Noch mal sorry, wir picknickten am märkischen Schwielowsee, und dies, obwohl in der Region Potsdam das Müllentsorgungsproblem keineswegs geklärt ist.

Das Dilemma der Ausstellung liegt in ihrer Unentschlossenheit: Den Machern ist nicht klar, ob sie sich nun an ihre eigene Alternativ- Ökoszene wenden oder ob es ihnen um das große bürgerliche Massentourismus-Publikum geht. Letztere einfach nur rigoros anzuprangern, ist zumindest der billigere Weg. Und den beschreitet man dann auch gerne. Die verdummten Neckermänner scheißen die Erde zu.

Dies stimmt zwar bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn es einem aber um mehr als die gute Ausleuchtung des eigenen moralischen Standpunktes geht, dann müßte man beim Thema Massentourismus auch diskutieren, wie man eine solche plumpe Millionenherde auf die richtigen Reisepfade umlenken könnte. Verurteilen allein bewirkt nichts. Doch genau dies geschieht nicht. Weder werden globalere realpolitische Forderungen — etwa zur Partizipation der Dritten Welt — erhoben, noch wird diskutiert, was regional zu Hause geschehen müßte, damit das propagierte »Balkonien« tatsächlich einmal verlockender wird als Rimini oder Bangkok. Es ist naiv, zu glauben, daß ein Zeigefinger und ein Fahrrad genügen — und schon beschränken sich die eingefleischten TUI-Kunden aufs sanfte Picknick in Kleinmachnow.

Halbherzig bleibt die Message aber auch da, wo sich die Ausstellung per »Du« an den alternativen, sozial »bewußten« Reisenden wendet. Hier kollidieren nämlich typisch alternative Lust an der Fernreise als Flucht aus der verhaßten BRD mit dem Wissen, das genau dies nicht sozialverträglich ist. Dahinter steckt das Problem all jener, die sich jahrein, jahraus für die Dritte Welt engagieren, deren Nähe suchen — und deshalb dort auch hinfahren. Wohl wissend, daß sie dort als Vertreter der »Ersten Welt« auftreten müssen, ob sie wollen oder nicht, ob sie in der Buschhütte campieren oder im Hilton. Und wohl wissend, daß die solidarischen Alternativen stets auch die Vorhut der Neckermänner-Industrie dargestellt haben. Ein furchtbarer, unbequemer Zielkonflikt, der aber nicht diskutiert wird. Es bleibt bei einigen banalen Uralt-Benimmregeln: Du sollst keine Einheimischen gegen ihren Willen knipsen, du sollst nicht im Bikini durch fremde Kulturen latschen... Thomas Kuppinger

Die Ausstellung ist täglich von 15 bis 19 Uhr — sonntags ab 11 Uhr — im Ökodorf in der Kurfürstenstraße 14, Berlin 30 bei freiem Eintritt zu besichtigen. Zusätzlich gibt es abends Vorträge, Diskussionen, Film- und Diavorführungen.