Acht neue Bonner Köpfe bilden (noch) keine Gruppe

Zwischen Arbeitsüberlastung und inneren Fliehkräften müssen die Abgeordneten von Bündnis 90/Grüne noch einen gemeinsamen Weg finden  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

So selbstverständlich das angeregte Gespräch wirkte, das Konrad Weiss kürzlich während der Debatte des Bundestags führte, war es mitnichten. Der alten Bundestagsfraktion der Grünen ist es jedenfalls nie passiert, daß der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und hauptamtliche Beißer in Oppositionswaden, Friedrich Bohl, freiwillig auf ihren Sitzen Platz nahm. Einen aufmerksam zuhörenden Bundeskanzler bei der Rede des ehemaligen Volkskammer-Vizepräsidenten und Vertreters von Demokratie Jetzt, Wolfgang Ullmann, — das hat von der untergegangenen Grünenfraktion höchstens Antje Vollmer verbuchen können. Heiner Geißler verweigerte sich gar der Fraktionsdisziplin im Unionslager, als ein Antrag von Bündnis 90/Grüne ausschließlich mit formalen Argumenten abgelehnt wurde. Komplett zum Geburtstag des SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel eingeladen zu werden, ist bei den Grünen ebenfalls niemals vorgekommen.

Dem kleinen Häufchen, deren schmale Tortenscheibe hintereinandergereihter Stühle zwischen die 654 anderen Abgeordneten gequetscht ist, wird anders begegnet als den westdeutschen Grünen — die freilich so auftraten, als befänden sie sich stets in Feindesland. Das Gespräch über Parteigrenzen hinweg zu pflegen, da gibt es bei der Mehrzahl der Bündnisfraktionäre kaum Schwellenängste. Der Theologe Ullmann (61) setzt explizit auf den stillen Dialog, um Dinge zu bewegen.

Der parlamentarische Geschäftsführer Werner Schulz (Neues Forum) wertet den anderen Umgang nur als Ausdruck des schlechten Gewissens, mit dem Vereinigungsgalopp die Bürgerrechtsgruppen aus der ehemaligen DDR überfahren zu haben. Im politischen Alltag zeigten sich schnell die Grenzen; da werde man „knallhart an die Seite geschoben“, hat der 41jährige Ingenieur Schulz bereits erfahren.

Die anfängliche Weigerung der Altparteien, der Gruppierung den Fraktionsstatus und damit parlamentarische Rechte zuzubilligen, Mitwirkungsmöglichkeiten in den Ausschüssen und die notwendigen Gelder für Mitarbeiter zuzugestehen, ist exemplarisch. Erst jetzt, drei Monate nach der gesamtdeutschen Wahl, können die acht Abgeordneten richtig mit der Arbeit beginnen. Wochenlang warteten die Abgeordneten außerdem auf den Abzug der Bauarbeiter aus ihren Büros im zweiten Stock des Hochhauses am Tulpenfeld. Zudem kommen die meisten nur ungern nach Bonn; wären nicht die Bundestagssitzungen, man könnte kaum von Präsenz reden.

Einen gemeinsamen Weg haben die acht noch nicht gefunden, sondern sich viel mit den inneren Fliehkräften der Gruppe beschäftigt. Gemeinsam ist den drei Frauen und fünf Männern, daß sie sich vor allem als Sachwalter der Interessen der BewohnerInnen der ehemaligen DDR sehen. Die Aufgaben der westdeutschen Grünen mit übernehmen zu wollen, das sei eine Nummer zu groß, sagt Werner Schulz. Gleiches gälte erst recht für die Meinung, das kleine Häufchen müßte sich als Avantgarde der gesellschaftlichen Erneuerungsdebatte eines ganz neuen Deutschland profilieren.

Die politischen Positionen liegen zum Teil weit auseinander, so zwischen dem Regisseur Konrad Weiss (Demokratie Jetzt), der sich selbst als wertkonservativ einstuft und der Physikerin und entschiedenen Feministin Christina Schenk (Unabhängiger Frauenverband/UFV). Nach den ersten Sitzungen der Gruppe, als Tränen flossen und Türen flogen, gaben manche der fragilen Gruppe nur eine Haltbarkeitsdauer von wenigen Monaten. Bemerkbar macht sich der Erfahrungsvorsprung der ehemaligen Volkskammerabgeordneten — neben Schulz, Ullmann und Weiss auch Gerd Poppe (Initiative Friedens- und Menschenrechte) und Vera Wollenberger (Grüne) — mit dem Parlamentsbetrieb. Die wollen nicht drüber diskutieren, die wollen Parlamentarismus machen, charakterisiert ein Mitarbeiter den „ungeheuren Pragmatismus“ der Alten. Die 33jährige Bibliothekarin Ingrid Köppe (Neues Forum) dagegen stellt die „verknöcherten“ Parlamentsstrukturen noch grundsätzlcih in Frage und will mehr direkte Demokratie. Das Abstimmungsverhältnis fünf gegen drei gilt bereits als „das übliche“ — mit Schenk, Köppe und dem Ost-Grünen Klaus-Dieter Feige auf der anderen Seite.

Der im „Handstreich“ — so eine Mitarbeiterin — als Pressesprecher durchgesetzte ehemalige Bundestagsabgeordnete und harte Realo Heinz Suhr und die andauernde Debatte, wer Fraktionsgeschäftsführer werden soll, sorgten für Unmut. Mit einer Einstellung des derzeitigen Geschäftsführers der grünnahen Böll- Stiftung und ehemaligen Grünen Bundesvorständlers Lukas Beckmann, so argwöhnten einige, solle die eigenständige Parteibildung der Bürgerrechtsgruppen vorbereitet werden. Schließlich hat Beckmann bereits vor einem Jahr die Spaltung der Grünen für unausweichlich gehalten. Nun soll er nur bis zum Sommer nebenamtlich die Geschäfte führen, bis die derzeitige kommissarische Geschäftsführerin ihre Schwangerschaft beendet hat. Eine Lösung, die gleichfalls auf Kritik stößt.

Zum neuen Stil der acht Abgeordneten gehört, die Fraktionssitzungen — anders als bei den Grünen — nicht öffentlich durchzuführen. Man möchte vermeiden, daß jeder Streit in der Gruppe sofort zum Medienthema wird. Der Prozeß des Sich- Zusammenraufens der acht Individuen sei ohnehin schwierig genug; ohne den Ausschluß der Öffentlichkeit wäre es eine „Katastrophe“ geworden und die „Lähmung perfekt gewesen“, glaubt der Poppe-Mitarbeiter Reinhard Weisshuhn (Initative Frieden und Menschenrechte).

Von Zusammenwachsen spricht niemand; höchstens davon, daß man sich aufeinander eingestellt habe. Die acht seien so unterschiedlich, daß es für ein Zusammenwachsen weniger Chancen gäbe als bei den Grünen, glaubt die Schenk-Mitarbeiterin Jutta Österle-Schwerin, in der letzten Wahlperiode selbst Bundestagsabgeordnete der Grünen. „Man läßt sich machen“, umreißt Christina Schenk die Konsensformel, die die Autonomie der Einzelnen weitgehend wahrt. Statt eines Fraktionsvorstands soll es nur einen parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer mit halbjähriger Rotation geben. Auf einen Konsenszwang haben die acht per Geschäftsordnung in realistischer Einschätzung der Verhältnisse gleich verzichtet und die Vereinbarung getroffen, daß auch Minderheitenanträge von der Gruppe in den Bundestag eingebracht werden.

Der stärkste Schutz vor einer Blockbildung und Spaltung sei die ausgeprägte Individualität der acht, spöttelt ein Mitarbeiter. Insbesondere der 49jährige Konrad Weiss profiliert sich als Solotänzer. Er, der sich zu sämtlichen Themen ohne Rücksicht auf interne Zuordnungen äußert, erinnert in manchem an den Ex-Grünen Otto Schily — eloquent, scharfzüngig und mit starkem Selbstdarstellungswunsch.

Reibereien und Verdächtigungen, sie strebe den Aufbau einer eigenen Partei an, gab es auch über die von Christina Schenk verteidigte Unabhängigkeit des UFV vom Bündnis. Ihr Antrag, im Namen der Fraktion den UFV aufzuführen, wurde abgelehnt. Für Mißtrauen sorgte ihre Einstellung einer Mitarbeiterin mit PDS-Parteibuch, zumal auch in der PDS-Fraktion eine UFV- Vertreterin sitzt. Für die große Mehrheit gilt, daß die PDS links liegengelassen wird; es gab auch keinen Protest, als eine Bundestagsdelegation inklusive Grüne/Bündnis 90 nach Israel reiste und die PDS einfach ausgeschlossen wurde.

Ein enges Verhältnis zu den Westgrünen, zumindest was die desolate Bundespartei angeht, ist kaum festzustellen. Einladungen zu den Fraktionssitzungen, früher „automatisch“ in der Post des Bundesvorstands, gibt es nicht mehr. Die Bundesvorstandssprecherin Renate Damus bat kürzlich schriftlich darum, teilzunehmen zu dürfen — was gewährt wurde. Bei den Kontakten und der inhaltlichen Zuarbeit hält man sich lieber an die Landesverbände.

Auch mit mehr Mitarbeitern und grüner Zuarbeit wäre die kleine Abgeordnetengruppe bei über 20 Parlamentsausschüssen heillos überfordert. Man müsse sich auf das wesentliche konzentrieren und Schwerpunkte setzen, nicht im Detail versinken, sondern Abstand behalten, macht Ingrid Köppe aus der Not eine Tugend. Wie man das macht, müssen die Abgeordneten allerdings noch zeigen. Ohne „diverse Irrwege“, ahnt Werner Schulz, werde es nicht abgehen.