Unwürdige Prozesse

■ Die Führungsriege der DDR steht wegen Lappalien vor Gericht KOMMENTARE

Mit welchen Strafrechtsparagraphen will man die politische und moralische Schuld für ein in sich geschlossenes System von Unterdrückung, Bespitzelung und Bespitzeltwerden erfassen? Welche Kriminalitätsraster sollen bitte schön auf die Verantwortung für Mißwirtschaft, für von oben verordnetes Denken, für allgegenwärtiges Mißtrauen, für tägliche große und kleine Lügen oder verpfuschte Lebensperspektiven passen? Wohl wissend um diese Schwierigkeiten, versucht die Berliner Justiz zur Zeit dennoch, die Größen der DDR-Politik mit scheinbarer Unerbittlichkeit vor Gericht zu stellen. Unter dem Druck, Aktivität zu demonstrieren, inszeniert die Jusitz eine für alle Beteiligten entwürdigende Veranstaltung, die mehr verdeckt als aufklärt.

Da steht ein kläglich greiser Gewerkschaftsführer Harry Tisch vor Gericht, von dem man kaum noch erahnen kann, wie er zu einem der mächtigsten Männer der Ex-DDR geworden ist. Das einzige, was ihm in justiziablen Kategorien vorgeworfen werden kann, ist ein nicht korrekt bezahltes Urlaubsvergnügen hier, ein kleinkrämerisch erschummeltes Ferienhäuschen dort. Peanuts, über die nicht nur westdeutsche Politiker vom Schlage Lothar Späths nur die Nase rümpfen können. Was mit Harry Tisch begann, soll jetzt mit führenden Herren des DDR-Politbüros, Hermann Axen und Werner Krolikowski, fortgesetzt werden. Doch wieder gehen die Vorwürfe am Kern der Sache vorbei, so als wenn man — in Ermangelung von Beweisen — einen Schwerverbrecher wegen Mißachtung einer roten Ampel vor Gericht stellen würde.

Der Bevölkerung der DDR mag es eine vordergründige Befriedigung bereiten, die alte Führungsriege für den Rest ihres ohnehin nicht mehr langen Lebens hinter Gittern zu sehen — egal warum. Nicht zuletzt hat es auch etwas Entlastendes für die eigene Verstrickung, wenn Schuldige dingfest gemacht werden — egal wie. Auch der Gradlinigkeit und Selbstgerechtigkeit westdeutscher Weltbilder mag damit genüge getan sein, denenzufolge ein Unrecht erst dann richtiges Unrecht ist, wenn der Täter auch bestraft wird — egal wofür. Für die politische Kultur jedoch sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland spielt es aber sehr wohl eine Rolle, ob sich die Justiz für diese eher billige Art der Vergangenheitsbewältigung gebrauchen läßt. Will man dem, was das System DDR ausgemacht hat, einigermaßen gerecht werden, und will man verhindern, daß die Lebenserfahrung von Millionen Menschen auf das dumpfe Gefühl reduziert wird, sie seien auf einige hochdotierte Eierdiebe hereingefallen, dann muß Schluß gemacht werden mit diesen Verfahren — auch wenn es vielleicht nicht sehr populär ist. Vera Gaserow