Übers Meer

Albaner besetzen Boote  ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler

In der albanischen Hafenstadt Vlore herrschte gestern der Ausnahmezustand. Schwere Panzerfahrzeuge blockierten das Hafenzentrum und die Ausfallstraßen, die Telefonverbindungen wurden unterbrochen, und die Ordnungskräfte ließen niemanden mehr passieren.

Unbestätigten Meldungen zufolge kam es bereits zu Tumulten und zahlreichen Festnahmen. Der staatliche Rundfunk meldete dazu lediglich, mehrere tausend Ausreisewillige seien in den letzten Tagen nach Vlore geströmt und hofften darauf, auf dem Seeweg „gesetzeswidrig nach Italien auszureisen“. Eine radikale Gruppe von „Hooligans“ und „finsteren Elementen“ habe einen defekten Schlepper unter ihre Kontrolle gebracht und fordere nun das Auslaufen des Schiffes, obwohl es für eine Überfahrt nicht geeignet sei und durch zu viele Menschen an Bord die Gefahr eines Schiffbruchs bestehe.

Eine Sprecherin der Oppositionszeitung 'Demokratische Wiedergeburt‘ in Tirana berichtete über Telefon, die Menschen stünden einfach am Strand von Vlora, warteten und weigerten sich, den Anordnungen der Sicherheitskräfte Folge zu leisten. Der Oppositionspolitiker Gramosz Paschko hatte bereits am Montag mitgeteilt, 1.000 Menschen hätten sich eines auf Dock liegenden Schiffes bemächtigt.

Auch aus italienischen Quellen war zu erfahren, daß der Schlepper nur 200 Menschen Platz biete. Erst am Dienstag morgen waren etwa hundert albanische Flüchtlinge in den apulischen Häfen Brindisi und Otranto eingetroffen. Innerhalb der letzten 14 Tage sind über ein Dutzend höchst unterschiedlicher Schiffe in Italien angelandet — von kleinen Schaluppen über Frachter bis zum Hochseeschlepper. Unter den Flüchtenden befanden sich auch Armeeangehörige, oft noch in Uniform.

In Vlora ist es bereits das vierte Mal in einer Woche, daß unzufriedene Albaner Boote kapern. In allen Fällen wurden die flüchtenden Schiffe von albanischen Patrouillenbooten selbst noch in internationalen Gewässern unter Feuer genommen.

Seitdem die größte albanische Hafenstadt Durres nach gewalttätigen Unruhen mit mindestens zehn Toten von Militäreinheiten besetzt gehalten wird und es sich im Lande herumspricht, daß sowohl Griechenland als auch Jugoslawien Flüchtende trotz Protesten des Flüchtlingshochkommissariats wieder an Tirana ausliefern, gilt Vlore als Geheimtip. Viele Albaner sitzen auf gepackten Koffern, weil die Angst vor einem Bürgerkrieg wächst. Kaum jemand glaubt mehr an die Fortführung des Reformkurses, die Oppositionsblätter sind eingeschüchtert und wagen nurmehr sanfte Kritk. Wie in längst vergessen geglaubten Zeiten werden gegen „Hooligans“ langjährige Haftstrafen ausgesprochen. Selbst der staatliche Rundfunk gibt daß zu, daß allein in Tirana in den letzten Tagen 70 „Staatsfeinde“ vor Volksgerichten veruteilt worden sind.

Dem Präsidenten der UNO-Generalversammlung, de Marco, versicherte er unterdessen, der Demokratisierungsprozeß werde fortgesetzt, und eine pluralistische Gesellschaft werde realisiert. Ramia stellte fest, in Albanien gebe es für das Grundrecht der freien Meinungsäußerung keine Einschränkung mehr, und das Recht auf freie Religionsausübung sei jetzt gewährleistet. Auch Beschränkungen für die Reisefreiheit seien weggefallen. De Marco hält sich zu einem offiziellen Erkundungsbesuch der Vereinten Nationen in Albanien auf

Alias Präsidialrat und die oppositionellen Parteien haben sich darauf geeinigt, erst nach den Wahlen am 31. März eine Neubewertung des 1985 gestorbenen Staatsgründers und allmächtigen Herrschers Enver Hoxha vorzunehmen.