»Dafür müßt ihr auch selber etwas tun«

■ SPD-Chef Hans-Jochen Vogel auf Tour durch den Ostteil der Stadt/ Stationen: Fabrik Bergmann-Borsig, Rathaus Pankow und Zentralinstitut für Molekularbiologie im Klinikum Buch/ Zum Abschied rote Hosenträger in Niederschönhausen

Der Mann war wie immer bestens vorbereitet. Um 6.15 Uhr hielt er sein erstes Arbeitsfrühstück ab, um kurz nach sieben gab er dem SFB ein erstes Interview. Pünktlichst um acht Uhr stapfte der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am Werkstor der Firma Bergmann-Borsig in Pankow los, an der Spitze eines Trosses von Berliner Sozialdemokraten einschließlich ihres Vorsitzenden Walter Momper. Zum letzten Mal in der Funktion als SPD-Chef — Vogel wird im Mai von Björn Engholm abgelöst — tourte er durch Berlin. Abschied wollte er es jedoch nicht nennen. Der Besuch im Ostteil der Stadt war ein hartes, straff durchorganisiertes Arbeitsprogramm. Nach Potsdam, Leipzig und Frankfurt an der Oder war Berlin die vierte Station von Arbeitsbesuchen in den neuen Ländern. Vogel, der für Berlin im Bundestag sitzt, will sich ein eigenenes Bild von der Situation in den neuen Ländern machen, wie er immer wieder betonte.

Erste Station: Firma Bergmannn-Borsig

Die traditionsreiche Firma ist der größte Kraftwerkshersteller in den neuen Ländern und zählt zu den Betrieben, deren Überleben als gesichert gilt. In der früheren DDR machten die über 3.000 Mitarbeiter rund eine halbe Milliarde (Ost-) Mark Umsatz pro Jahr, jetzt ist er steil in den Keller gerutscht. Für 1991 wird ein Auftragsvolumen von knapp 200 Millionen Mark angestrebt — daß es erreicht wird, ist eher zweifelhaft. Fast 1.000 Mitarbeiter sind derzeit nur in Kurzarbeit beschäftigt, nur insgesamt zwei Drittel der Belegschaft sollen nach Ablauf der tariflichen Kündigungsfrist Ende Juni dieses Jahres gehalten werden. Bereits im November 1989, so ein Betriebsrat, habe man angefangen, mit dem Mannheimer Unternehmen ABB (Asea Boveri Brown) zu kooperieren. Jetzt muß die Übernahme durch ABB noch von der Treuhand genehmigt werden, dort ziehen sich die Verhandlungen jedoch in die Länge.

Bergmann-Borsig zählt im Ostteil der Stadt zu den Vorzeigebetrieben, und der SPD-Chef ist nicht der erste Spitzenpolitiker, der sich über das weitläufige Firmengelände führen läßt. In den Werkshallen sind zwar nur wenige Menschen zu sehen, alles macht jedoch einen sauberen und funktionellen Eindruck. Hans-Jochen Vogel läßt sich nur wenig Zeit. Eher im Eilschritt geht es durch die Hallen, nur wenige Worte hat er für die Arbeiter, die sich beklagen über die Verschleppungstaktik der Treuhand und darüber, daß sie es satt haben, immer als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. Vogel hört zu, fragt nach, gibt Ratschläge. Seine eher gering ausgeprägte menschliche Wärme, die immer ein wenig hinter den so berüchtigten Oberlehrerattitüden verschwindet, versucht er wettzumachen durch Sachlichkeit. Emotionen sind seine Sache nicht, aber er weiß bestens Bescheid. Schließlich hat er sich von den Berliner Genossen einen Tag vor dem Besuch ein dreißigseitiges Konvolut nach Bonn schicken lassen, um über die Stationen unterrichtet zu sein.

Im Gespräch mit Betriebsräten in der Werkskantine kommt der Parteipolitiker zum Vorschein: Die Parteipolitik solle im Hintergrund stehen, versichert Vogel, aber was sich die Regierung in Bonn da geleistet habe... »Die Menschen in den alten und neuen Ländern sind getäuscht worden. Hier hat man Ihnen versprochen, daß es allen besser und keinem schlechter gehen soll. In den alten Ländern hat man versprochen, daß es keine Steuererhöhung geben wird.« Vogel trifft die Stimmung der Arbeiter am Nerv, betont mehrmals, er sei selbst bitter. Man glaubt es ihm gern. Die SPD kann zwar jetzt damit glänzen, recht gehabt zu haben, und würde die Wahlen derzeit wohl gewinnen. »Der Wähler« ist jedoch bekanntermaßen höchst vergeßlich und wird sich in dreieinhalb Jahren daran kaum noch erinnern. »Die Teilung kann nur mit Teilen überwunden werden«, predigt Vogel die SPD-Linie und gibt auch gleich Nachhilfe im ABC der Marktwirtschaft. Hier wie bei den nachfolgenden Stationen macht er sich erneut stark für die Verlegung des Regierungs- und Parlamentssitzes nach Berlin, »denn hier sind die Probleme der Einheit sichtbar, und eine Regierung gehört dahin, wo die Probleme sind«. Beifall ist ihm damit sicher.

Zweite Station: Rathaus Pankow

Im Ratssaal warten die SPD-Bürgermeister der östlichen Bezirke, um dem Vorsitzenden ihr Herz ausschütten zu dürfen. Auch die aus dem Westteil der Stadt waren eingeladen, erschienen ist jedoch keiner. Vogel rügt das gegenüber den Genossen, erkundigt sich, wer denn die Einladungen verschickt hat. Danach wieder die sich gleichenden Klagen der Bezirksherren: Personalprobleme in den Verwaltungen, steigende Arbeitslosenzahlen, explodierende Mieten, ungeklärte Grundstücks- und Eigentumsfragen, die die wirtschaftliche Entwicklung hemmen... Vogel notiert unermüdlich, stellt Nachfragen, will Abkürzungen erklärt haben. Konkrete Hilfe kann er hier kaum anbieten, er wiederholt die Argumente gegen die Bundesregierung, die schon die Borsig-Arbeiter zu hören bekommen haben, die Hauptstadtfrage. »Dafür müßt ihr auch selber etwas tun«, ermahnt er die Genossen, und auch der beklagenswerte Zustand der Partei in den östlichen Ländern kommt zur Sprache. In Ost-Berlin ist die Zahl der Mitglieder von knapp 3.000 auf alarmierende 1.700 abgesackt, »und das liegt nicht nur an den geplanten Beitragserhöhungen«, weiß Vogel, auch da müßte man etwas tun und nicht nur nach Bonn starren.

Zentralinstitut für Molekularbiologie

Das ZIM genannte Forschungszentrum im Klinikum Buch war eines der großen Institute der ehemaligen Akademie der Wissenschaften. Nach einem Gutachten des Wissenschaftsrates soll es mit zwei anderen Akademie-Instituten für Herz-Kreislauf- Forschung und für Krebsforschung »abgewickelt« und dann neu gegründet werden. Anfang Oktober letzten Jahres wurden die Institute, an denen insgesamt 1.500 Wissenschaftler arbeiten, »evaluiert«, d.h. von einer Expertenkommission neu bewertet werden. Bis Ende 1991 muß laut Einigungsvertrag entschieden sein, welche Akademie-Institute erhalten oder neu gegründet werden und welche abgewickelt werden. Über das Gutachten herrscht in den Instituten Empörung: In ihm werden zwar Forschungsergebnisse durchaus gewürdigt, jedoch die personelle Überbesetzung kritisiert. Die Einrichtungen sollen erhalten bleiben, empfiehlt der Wissenschaftsrat, jedoch mit einer deutlichen Reduzierung des Personals auf höchstens 600 Mitarbeiter. So schnell wie möglich soll eine Gründungskommission einberufen werden, die eine neue Struktur erarbeiten und die Stellen definieren und ausschreiben soll.

Hans-Jochen Vogel besichtigt auf dem Gelände erst ein paar Labore, spricht dann mit der Leitung des Instituts und anschließend mit etwa 50 Professoren und Wissenschaftlichen Mitarbeitern. Das Gespräch mit den Wissenschaftlern nimmt eine eigentümliche Dynamik. Anfangs will es nicht so recht in Gang kommen, dann entladen sich aufgestaute Emotionen. Wegen ihres Alters befürchten viele Mitarbeiter, nach der »Abwicklung« keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Dabei loben sie immer wieder den internationalen Standard der dort betriebenen Forschung. Ein böses Schlagwort wird in den Raum geworfen: Die angestrebte Neugründung sei eine »Lösung Neutronenbombe«, die die Institution erhalten und die Menschen beseitigen soll. Der bei dem Gespräch anwesende ehemalige Staatssekretär der Wissenschaftsverwaltung, Hans Kremendahl, zuckt bei diesem Vorwurf merklich zusammen. Die Schaffung eines neuen biomedizinischen Forschungszentrums sei vernünftig, kontert er messerscharf wie immer, die Größenordnung orientiere sich an vergleichbaren Instituten in der alten Bundesrepublik. Hans-Jochen Vogel weiß zu dem schwierigen Problem der Abwicklung wenig zu sagen und erzählt Anekdoten aus seiner Zeit als Münchner Oberbürgermeister und Regierender Bürgermeister von Berlin. Er kommt nicht umhin zuzugestehen, daß auch unter einer SPD- Regierung in Bonn bestimmte Entscheidungen getroffen worden wären. »Es ist unrealistisch, auf eine Rücknahme der Entscheidung zu hoffen.«

Unter den Mitarbeitern regt sich Unmut, das war es nicht, was man sich von dem Gespräch erhoffte. Ein Professor beschwört ein Schreckgespenst, das allenthalben in wissenschaftlichen Kreisen der Ex-DDR zu hören ist: Es droht der »drittklassige wissenschaftliche Nachwuchs aus Westdeutschland«, der nur darauf wartet, hier endlich eine akademische Laufbahn anzutreten. Beifälliges Gemurmel. Die »Fachkader« würden dann weggehen, droht ein anderer Wissenschaftler. Ein älterer Kollege glaubt, noch eins draufsetzen zu müssen: Der deutschen Forschungslandschaft stehe jetzt ein ähnliches »Ausbluten« bevor wie 1933. Diese Ungeheuerlichkeit bleibt unwidersprochen im Raum, der nächste Termin ruft schon. Vogel besichtigt das Schloß Niederschönhausen, das früher den Gästen und Staatsempfängen der SED-Prominenz vorbehalten war. Als krönender Abschluß wird dem scheidenden SPD-Vorsitzenden ein Paar roter Hosenträger verliehen. Die braunen ausgefransten, die er sonst zu pflegen trägt, erschienen selbst den Berliner Genossen zu schäbig. Kordula Doerfler