Der Himmel über New York

■ „Alice“, der neue Film von Woody Allen

Wenn das Leben ein Film wäre, was für ein Traum! Man könnte über New York fliegen und im Central Park spazierengehen, wann immer man will. An jeden beliebigen Ort dieser Erde könnte man sich begeben und in jede denkbare Epoche. Man könnte Tote zum Leben erwecken und Lebende verschwinden lassen. In seine Kindheit könnte man sich zurückversetzen, ja ich könnte mir meine erste große Liebe ins Wohnzimmer wünschen, und schon stünde sie da. Jeder Mann, der mir gefällt, könnte mein Liebhaber werden. Das Leben wäre ein Märchen und die Welt ein Wunderland.

Woody Allen hat das Märchen auf die Leinwand gebracht, ein Märchen so schön wie Broadway Danny Rose. Diesmal steigt nicht der Kinoheld von der Leinwand herab, sondern die schnöde Wirklichkeit selbst wird in den Kinohimmel emporgehoben. Und die Heldin in diesem Wunderland ist eine Urenkelin des Mädchens, das Lewis Carroll erfunden hat: Alice. Alice (Mia Farrow) lebt als treue Ehefrau und fürsorgliche Mutter in wohlhabenden New Yorker Verhältnissen. Ihr Alltag besteht aus Einkaufsbummeln und Friseurbesuchen, ihre einzige Arbeit darin, die Kinder vom Kindergarten abzuholen. Nur ein paar leichte Schmerzen hier und da machen ihr zu schaffen — vage Symptome, weiter nichts. Seit ihrer katholischen Jungmädchenzeit schwärmt sie für Mutter Theresa. Mit anderen Worten: Das Leben ist langweilig.

Wegen der Schmerzen sucht Alice Dr. Yang auf, einen asiatischen Wunderdoktor, der seine Praxis in einem heruntergekommenen Haus in Chinatown unterhält. Ordentlich frisiert und dezent gekleidet, sitzt sie im Halbdunkel des schmuddeligen Wartezimmers, plappert noch munter und ein wenig naiv gegen des Doktors knappe Fragen an und verkörpert sekundenlang die weibliche Variante von Woody Allen: bloß daß der Analytiker diesmal ein Medizinmann ist und sie eine Katholikin. Dr. Yang verschreibt Alice diverse Pulver und Kräuterextrakte, sie soll sie in Wasser auflösen und die Wirkung abwarten. Katholiken glauben nicht an die Macht des Wortes. Sie glauben an Wunder.

Das erste Pulver löst ihr die Zunge. Nun kann sie Joe (Joe Mantegna), dem netten, schüchternen Vater, den sie häufig im Kindergarten trifft, endlich gestehen, was sie für ihn empfindet. Das Ergebnis: eine Affaire. Das erste Wunder.

Das zweite Pulver macht sie unsichtbar. Nun kann sie hingehen, wohin sie will, und sehen, was sie will. Sie beobachtet ihren neuen Freund mit seiner Ex-Frau und ertappt ihren scheinbar immer korrekten Gatten (William Hurt) beim Ehebruch. Sie fährt umsonst mit dem Taxi, beobachtet heimlich Passanten, Bekannte, Freundinnen. Ihrem eigenen Leben schaut sie zu, als sei es ein Film. In ihrer Unsichtbarkeit ist sie geschützt wie in der Sicherheit des dunklen Kinosaals. Was sie sieht, ohne selbst gesehen zu werden, ist manchmal ein Schock, aber die Wahrheit. Das zweite Wunder.

Das dritte Pulver macht Tote lebendig. Ed (Alec Baldwin), ihre längst verstorbene erste große Liebe, erscheint in der Nacht, die beiden fliegen über die Stadt, im Himmel über New York, hoch über dem Lichtermeer, sind sie noch einmal glücklich miteinander. Alice begibt sich in das Haus ihrer Kindheit, führt die längst fällige Auseinandersetzung mit der Mutter, versöhnt sich mit der Schwester. All das nie Gesagte spricht sie endlich aus — bloß, weil ein paar Gestalten aus dem Jenseits erschienen sind. Plötzlich wird man gewahr, daß selbst Mia Farrow da vorne auf der Leinwand nichts ist als ein Schemen, eine Gestalt zwar, die man glaubt, berühren zu können, deren Wange man streicheln möchte, deren Duft man zu riechen vermeint und die zu einem spricht, als wüßte sie, wer da sitzt. Aber in Wirklichkeit ist da nur ein tanzender heller Strahl, der auf eine leere weiße Fläche fällt und dort seine Lichtspiele treibt. Der Rest ist Projektion. Was man sieht, ohne selbst gesehen zu werden, ist ein sanfter Schock, aber die Wahrheit.

Das dritte Wunder: Dr. Yang verzaubert Alice, Woody Allen verzaubert uns. Alice wird ins Wunderland entführt, um zu erkennen, wie das Leben wirklich ist, wir gehen ins Kino, weil wir das Leben vergessen wollen, aber hinterher haben wir es erkannt. Manchmal sind wir nur belogen worden, aber bei Woody Allen hat das Kino keine Angst vor dem Kitsch: Alice — ein Trost in der Dunkelheit.

Das vierte Pulver endlich... wird nicht verraten. Wie alle Märchen hat auch Alice ein Happy-End, aber es sieht anders aus, als man erwartet. Jedenfalls erstaunlich katholisch. Christiane Peitz

Woody Allen: Alice . Mit Mia Farrow, William Hurt, Joe Mantegna, Alec Baldwin. USA 1990, 106 Min.