Kriegsopfer Europäische Gemeinschaft

■ Der EG-Integrationsprozeß ist kriegsbedingt aus dem Tritt gekommen / Kohl akzeptierte Majors "Umwege zu den gesteckten Zielen" / Als neues Bindemittel zwischen den Mitgliedsstaaten soll das...

Aus Brüssel Michael Bullard

Versteinert duckt er sich im Schatten der schwarzverglasten EG-Zentrale. Dort, vor dem verwaisten Nebeneingang zur Eurokratie, soll er Hoffnung stiften, Hoffnung, daß der „Einigungsprozeß Europas erfolgreich voranschreitet“. Doch kaum gepflanzt, fuhr ihm der „Wüstensturm“ in die marmornen Äste. Nur Wachleute und vereinzelt Kaninchen leisten ihm seitdem Gesellschaft — ein sträflicher Frevel. Müßten die Eurokraten nicht gerade jetzt dem „Baum der Hoffnung“ huldigen, auch wenn er nur eine Skulptur aus Italien ist, ein Geschenk der skandalumwitterten Banca Nazionale del Lavoro? Schließlich scheint den Schönwettereuropäern die Geschichte davonzulaufen, die sie zu machen bislang vorgaben. Was die Eiserne Lady in zehn Jahren unerbittlichen Nörgelns nicht schaffte, für die west-östliche Kriegerfront am Golf war es ein Klacks: Der Integrationsprozeß der Gemeinschaft ist aus dem Schritt gekommen.

Die „Europhorie“ ist seit dem Golfkrieg verflogen

Noch ist das Richtfest für den Neubau der „Festung Europa“ nicht verschoben. Doch sieht man neuerdings Arbeitskolonnen mit Schaufel und Hacke durch die Gänge ziehen. Längst verschüttet geglaubte Gräben werden wieder aufgerissen, andere vertieft. Sei es in der Landwirtschaft, bei Gatt, der Wirtschafts- und Währungsunion oder bei einer gemeinsamen Nahostpolitik; im Gefolge des Krieges sind nationale Sonderinteressen allenthalben wieder auf dem Vormarsch. Die noch Ende letzten Jahres an den Tag gelegte „Europhorie“ ist verflogen. Nur einer hat Grund zur Freude: Als strahlender Sieger an der EG-Front gibt sich der britische Kriegsherr John Major kulant: „Es macht keinen Sinn, die Gemeinschaft dafür zu kritisieren, etwas nicht zu sein, was die Mitgliedsregierungen sie nicht sein lassen wollen.“

Zu keckem Zweckoptimismus nehmen die EG-Finanzminister seitdem Zuflucht, wenn sie auf die Konsequenzen des „Wüstensturms“ angesprochen werden. Der Golfkrieg wird weder „die europäische Wirtschafts- und Währungsunion noch die wirtschaftlichen und politischen Reformbemühungen der ostmitteleuropäischen Nachbarn gefährden“. Noch während die Finanzminister dies zu Protokoll gaben, brachte allerdings Otto Pöhls zinspolitischer Alleingang das Europäische Währungssystem ins Schlingern. Unangemeldet hatte der Chef der deutschen Bundesbank die Zinsrate um ein halbes Prozent angehoben. Dies, so der einhellige Aufschrei in Rom, London und Paris, komme einem „Dolchstoß“ gleich, der die je schon geschwächten Wirtschaften der Bundesgenossen der Gefahr des Ausblutens aussetzte.

Zweckoptimismus als Reaktion auf den „Wüstensturm“

In dieselbe Kerbe hieb wenig später auch der frühere deutsche Wirtschaftsminister und jetzige Binnenmarktkommissar Martin Bangemann: In seiner Machtvollkommenheit habe Pöhl „wie Gott“ gehandelt, indem er die anderen Zentralbanken dazu zwinge, die Zinsen gefährlich hochzuhalten, was eine Rezession erleichtere.

Sofort brachen auch alte Ressentiments gegen die geplante Wirtschafts- und Währungsunion wieder auf. Mit Ausnahme Großbritanniens hatte man sich Mitte Dezember auf den 1. Januar 1994 als Startpunkt für die zweite Phase des ehrgeizigen Projekts — der Errichtung einer europäischen Zentralbank mit einer gemeinsamen Währung — geeinigt. Der Vorschlag der britischen Regierung, ein paralleles Währungssystem einzuführen, wurde damals nur höflichkeitshalber auf die Tagesordnung gesetzt, kaum jemand nahm ihn ernst. Im Schatten kriegsbedingt wachsender Haushaltsdefizite und damit einhergehender Inflationsängste gewinnt Majors „harter Ecu“ jedoch zunehmend Anhänger. In Paris, Madrid und selbst in Bonn wächst die „Einsicht“, daß die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen in den Mitgliedsländern zu unterschiedlich sind, als daß bereits in drei Jahren auf eine gemeinsame Währung umgestellt werden könne.

Selbst Pöhls Lieblingskonzept vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, in dem die Kernlande Bundesrepublik, Frankreich und die Benelux-Länder dem Rest die Vorteile einer gemeinsamen Währung vorführen wollten, verliert an Aktualität. Sehr zum Mißfallen der EG- Kommission hat sich Bundeskanzler Kohl inzwischen mit Majors Version der „Umwege zu den gesteckten Zielen“ angefreundet. Zu groß ist die Kluft auch im Zentrum der EG geworden, seitdem alle Länder mit Ausnahme Deutschlands von Rezessionen verschiedenen Ausmaßes betroffen sind. Die Entscheidung, eine Europäische Zentralbank mit Gemeinschaftswährung einzurichten, möchte die Bundesregierung deshalb frühestens 1997 treffen.

Dagegen streubt sich noch EG- Visionär Jacques Delors: „Die symbolische Schwelle“ sei längst überschritten, der europäische Binnenmarkt bereits vor dem 1. Januar 1993 Realität geworden. 200 der 282 geplanten EG-Richtlinien seien schon umgesetzt. Es hakt allerdings noch bei tragenden Teilen wie dem freien Personenverkehr, der Einwanderung oder der Angleichung indirekter Steuern. Verantwortlich für den Verzug macht Binnenmarktkommissar Bangemann neben dem Europaparlament die Regierungen in London, Dublin, Kopenhagen und Athen. Schon ist absehbar, daß das öffentlich wirksame Kernstück des Binnenmarkts, der Abbau der innergemeinschaftlichen Grenzkontrollen, nicht durchzusetzen ist. Denn seit das Schreckgespenst riesiger Flüchtlingstrecks aus der Sowjetunion und den arabischen Mittelmeerländern durch die Euromedien spukt, sind Versuche, die Einwanderungs- und Visumbestimmungen zu vereinheitlichen, schwerer geworden.

Eine einheitliche Kontrolle der Außengrenzen ist allerdings notwendige Bedingung für die Aufhebung der Grenzkontrollen im Inneren des Europäischen Reichs. Vorbedingung ist auch die Angleichung der indirekten Steuern. Trotz mehrfacher Anläufe der EG-Steuerkommissarin Scrivener, wenigstens die Bandbreiten der national sehr unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze auf 14 bis 20 Prozent einzuengen, gibt es auch in diesem Bereich nur geringe Fortschritte.

Um die „Akzeptanz“ durch die Mitgliedsregierungen zu erleichtern, benutzte man bei vielen anderen Richtlinien beispielsweise in den Bereichen Umweltschutz, Soziales und Verbraucherschutz eine ähnliche Prozedur. War ursprünglich einmal vorgesehen, die nationalen Bestimmungen EG-weit zu „harmonisieren“, so begnügt man sich in der Kommission seit einiger Zeit mit der Einführung von „Mindeststandards“. Diese orientieren sich meist an den Bedingungen der schwächsten Mitgliedsländer und bereiten bei der Annahme und Umsetzung weniger Schwierigkeiten.

Die Kür zu dieser Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners proben die EG-Außenminister dieser Tage. Die Choreographie dazu stammt aus London, seit sich die britische Regierung vom Außenseiter zum „Major Player“ gemausert hat. Geflissentlich sehen sie dabei über die innereuropäischen Gräben hinweg, die der von Bush und Major befohlene Bombenhagel aufgerissen hat. Statt dessen arbeite man gerade jetzt zielstrebig an dem Projekt einer politischen Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik — an den Plänen und Vorschlägen gemessen, die sich in den Büros stapeln, sicher keine Untertreibung. Nur mit welchem Resultat?

Das Spiel bestimmt der „Major Player“

Die Debatte über die Demokratisierung der Gemeinschaft durch eine stärkere Beteiligung des Europaparlaments an den EG-Entscheidungen faßte der derzeitige Ministerratspräsident Poos mit den trockenen Worten zusammen: „Eine klare Mehrheit im Ministerrat ist gegen wesentliche Kompetenzverlagerungen.“ Und Eurovisionär Delors fragt sich besorgt, ob die beiden engsten Stützen US-amerikanischer Politik in Europa, die Regierungen in London und Den Haag, der EG den Rücken kehren werden. „Wird Großbritannien aus der Krise ableiten, daß seine Position in Zukunft im Zentrum des Dreiecks USA, Europa und dem Commonwealth ist?“

Fortschritte zeichnen sich allein bei der Diskussion über die militärische Zusammenarbeit ab. Schon einmal, Anfang der fünfziger Jahre, sollte eine gemeinsame militärische Organisation, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), den politischen Einigungsprozeß Europas ermöglichen. Vierzig Jahre später wird die militärische Klammer erneut ausgepackt, um die zerbröselnden Träume von einer wirtschaftlichen und politischen Union zu retten. Die Westeuropäische Union (WEU) soll als Bindeglied zwischen EG und Nato zum Auffangbecken gemeinschaftsgeschädigter Mitgliedsstaaten ausgebaut werden. Eine Hoffnung, die in der EG-Zentrale ihren schwergewichtigen Niederschlag findet: Vorsichtshalber wurden schon olivfarben bemalte Sandsäcke beim trostlosen Hintereingang gestapelt — um wenigstens den „Baum der Hoffnung“ im Ernstfall zu retten.