Indiens Regierung zurückgetreten

■ Angebliche Abhöraffäre war Auslöser für den Rücktritt Chandra Shekhars/ Kongreß-Partei hatte Minderheitsregierung Zusammenarbeit aufgekündigt/ Noch keine Entscheidung über Neuwahlen

Neu Delhi/Berlin (dpa/taz) — Nach 117 Tagen im Amt ist die indische Regierung unter Premierminister Chandra Shekhar an einer angeblichen Abhöraffäre gescheitert. Shekhar reichte am Mittwoch bei Staatspräsident Ramaswamy Venkataraman seinen Rücktritt ein, wird jedoch auf dessen Wunsch die Amtsgeschäfte kommissarisch weiterführen. Unklar war zunächst, ob es Neuwahlen in Indien geben wird.

Vor Journalisten erklärte der scheidende Premierminister nach dem Gespräch mit dem Staatspräsidenten, er habe diesem geraten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Er erklärte, Venkataraman habe versprochen, diese Frage innerhalb der nächsten 24 Stunden zu klären.

Shekhar kündigte seine Entscheidung am Ende der Unterhausdebatte über den Haushalt an. Am Vortag war die Kongreß-Partei Rajiv Gandhis aus dem Parlament ausgezogen und hatte erklärt, sie werde die Parlamentsarbeit bis auf weiteres boykottieren. Auf die Unterstützung durch die Kongreß-Partei war Shekhar maßgeblich angewiesen, da er selbst nur eine 54 Abgeordnete umfassende Fraktion, die Janata-Dal (S) Partei, anführt und keine Koalitionspartner fand. Mit ihren 211 von 524 Sitzen stellt die Kongreß-Partei im Unterhaus des Parlaments die größte Gruppierung. Letzter Grund für das Ende der Zusammenarbeit war eine noch nicht aufgeklärte Abhöraktion. Angeblich soll das Privathaus Gandhis von zwei Polizisten belauscht worden sein. Die Polizisten sollen aus dem Bundesstaat Haryana stammen. Dort amtiert eine Shekhar-freundliche Landesregierung.

In den Mittelpunkt des politischen Interesses in Indien rückt nun erneut Rajiv Gandhi. Es wird damit gerechnet, daß Präsident Ramaswamy Venkataraman ihn fragen wird, ob er eine Regierung bilden kann. Bisher hat sich Gandhi noch nicht erklärt. In einer ersten Stellungnahme bezeichnete er den Rücktritt Shekhars als „unglücklich“ und „einseitigen Schritt“. Tatsächlich wären beide Optionen — Übernahme der Regierung durch die Kongreß-Partei oder Neuwahlen — für Gandhi mit großen Unsicherheiten behaftet: Bei sofortigen Neuwahlen müßte er möglicherweise landesweit Verluste befürchten. Laut Meinungsumfragen würde sie im Hindi-Herzland zwischen der populistischen Janata Dal Partei des im November gestürzten Ex-Premiers V. P. Singh und der hinduistischen Bharatya Janata Partei von L. K. Advani beinahe aufgerieben. Beide Parteien haben eben jene Wählerreservoires — die unteren Gesellschaftsschichten und die Hindus — für sich mobilisiert, die traditionell dem Kongreß zuströmen. Auch die Regierungsübernahme wäre mit Unsicherheiten belastet: Rajiv Gandhi müßte dafür die Unterstützung abtrünniger Elemente der Janata Dal (S) — zum Beispiel Vizepremiermininster Devi Lal — suchen, da dem Kongreß mindestens 50 Mandate an der Parlamentsmehrheit fehlen. Mit derart notorischen Spekulanten der Macht — Devi Lal hatte bereits die Regierung von V. P. Singh zu Fall gebracht — könnte Gandhi aber kaum ungestört regieren. Überdies verbietet ein anti-defection-law die Mitnahme von Parlamentsmandaten bei Übertritt zu einer anderen Fraktion. Aufgrund dieses Gesetzes waren bereits im vergangenen Monat sieben Parlamentsmitglieder, darunter fünf Minister Chandra Shekhars, disqualifiziert worden.

Daher war Gandhi in den vergangenen Wochen bestrebt, auf Zeit zu spielen. So versuchte er, durch immer schärfere Kritik an der Politik Chandra Shekhars, wie im Falle der Auftankgenehmigung für US-Militärmaschinen auf dem Weg zum Golf, die Chancen seiner Partei für die im April in Tamil Nadu anstehenden Landeswahlen zu erhöhen. Auch die Verabschiedung des Haushalts 1991, mit dem einschneidende Sparmaßnahmen zu entscheiden waren, mußte Shekhar auf Druck der Kongreß-Partei verschieben. Imhasly/Lietsch