Der Stuhl blieb leer

■ Tadeusz Kantors Cricot-Theater mit »Aujourd'hui, c'est mon anniversaire« im Hebbel-Theater

Betritt man das kleine Cricot-Museum in Krakau, so vergißt man sofort den polnischen Alltag und die Verwahrlosung der Straße, durch die man soeben gegangen ist. Der schwarze, viereckige Kellerraum, in dem Kantors Skulpturen, die aus Holz, Metall und Filz gebauten Theaterrequisiten, als stumme Zeugen stehen, nimmt einen in einer nahezu sakralen Atmosphäre gefangen. Zu den Klängen des immergleichen Tangos geht man im Imaginären des polnisch-jüdischen Theatermachers spazieren. Kantor nennt sich im Programmheft dieser seiner letzten Inszenierung Aujourd'hui, c'est mon anniversaire (»heute ist mein Geburtstag«) »Besitzer des armen Zimmers der Phantasie«. Arm wirkt der Raum des Cricot-Museums nicht, obwohl die Skulpturen aus einfachem Material gemacht sind und oft Fundstücke, Erinnerungsstücke einer vergehenden Ära sind. Sie haben allerdings das Geschundene des Abgelebten an sich, erinnern nicht zuletzt an die Warenberge in Auschwitz: schon in ihrer graubraunen Farblichkeit, in ihrer Abgenutztheit und Gebrauchtheit verweisen sie auf das Leben, das sie einst enthielten und als dessen trauriges Mahnmal sie übriggeblieben sind. Als hätte Kantor geahnt, daß er bald sterben würde, hat er mit diesen Objekten, die länger dauern als ein Menschenleben, eine Art Biographie erstellt. Nach Maßgabe der Erinnerung entwickelte er eine Bilderfolge, in der eher wenige, dafür nachhaltige Eindrücke seines Lebens nochmals zum Leben erstehen. Zum Anlaß seines 75. Geburtstages führt er den Zuschauer durch »das arme Zimmer der Phantasie«.

So ist es in der Tat nur logisch, daß im ersten Bild der Stuhl, auf dem das Geburtstagskind sitzt, leer bleibt. Vielleicht, hätte er noch gelebt, wäre er tatsächlich auf diesem Stuhl gesessen, so wie er ja immer mit auf der Bühne war, am Rand, an der Grenze, aber sichtbar als derjenige, der die Fäden seines inneren Universums zieht. Sein Fehlen war spürbar, bei dieser Aufführung im Hebbel-Theater, obwohl sein alter ego, der Schatten, zusammen mit der Dienerin-Kritikerin den ablauf des Spiels geichert hat. In dem armen Zimmer der Phantasie hat diesmal vor allem eine Person Leben gewonnen: das »arme Mädchen«, von dem Kantor erzählt, daß es ihn zu diesem Stück inspiriert hat. So arm die Muse auch sein mag, sie macht sein Theater reich. Und vielleicht gerade, weil sie in absurder Manier immer nur wiederholt »comme c'est triste«, schafft sie Raum für die Einbildungskraft. Sie selbst ist ein virtuelle Person, stellt sich in einen Bilderrahmen, um als Kopie einer anderen Figur Leben zu bekommen und wird von dem Priester immer dort weggeholt. Sie trägt eine Zeichenmappe mit sich herum, ist damit nochmals das alter ego des Künstlers selbst.

Wichtig scheint Kantor nicht die Verhandlung seines persönlichen Schicksals, sondern die Evokation bestimmter zeitbedingter Atmosphären aus einer beinahe göttlichen Perspektive zu sein. Alte Hocker, eine Tischplatte, Betten, einfache Holzkreuze, Käfige, Kanonen — daraus erwächst Kantors plastisches und konstruktivistisches Universum, das seinen Tribut dem russischen Konstruktivismus zollt: dem sowjetischen Theatermacher der ersten Stunde, Meyerhold, wird in diesem Stück ausdrücklich Reverenz erwiesen, zu Meyerholds Ehren tanzt das Cricot einen Siegestanz. Gleichzeitig spielt Kantor ein Spiel mit der Illusion, entwirft Bilder als Möglichkeit, thematisiert das Unsichere des Gedächtnisses, die Wirkmächtigkeit und gleichzeitige Flüchtigkeit der Phantasie. Er zeigt drei leere, große Holzrahmen auf der Bühne, in die sich wechselweise als tableau vivant seine Familie, die Menina aus dem gleichnamigen Gemälde von Velasquez oder Gefallene des ersten Weltkrieges gruppieren: Kantors Theater ist ein Ritual, die ewige Wiederkehr des Gleichen, deswegen arm, weil die Zahl der Elemente begrenzt ist, Tango, Menschen und Requisiten werden immer nur neu kombiniert.

Das Leben des polnisch-jüdischen Theatermachers zieht auf diese Weise traumartig in sechs Akten an einem vorüber: zu seinem ersten Geburtstag wird der Beginn des ersten Weltkriegs durch einen Zeitungsverkäufer bekanntgegeben; die auf der Bühne in Decken eingewickelten Menschen, die »Verpackten«, erfahren gleichsam aus den Gazetten ihren eigenen Tod, werden kurz ins Bild geworfen, erwachen kurzfristig zum Leben, tanzen zu einem jüdischen Lied einen Totentanz — hat Kantor hier seinen eigenen Tod vorweggenommen und feiert in seinen Bildern gleichsam seine Wiederkehr?

Jüdische Personen treten auf und verschwinden in großen Kisten, nach dem Auftritt von Kriegstreibern des Zweiten Weltkriegs bringen Agenten des KGB im Auftrag Molotows Meyerhold um. Kriegsparaden vermischen sich mit Zirkusdarbietungen, das Skurrile mit der Melancholie — die schon beinahe barocken Gleichnisbilder gefrieren in einem wehmütigen Lächeln, und die Doktorin Klein alias Jehova verrät uns bei der Parade der Kriegsinvaliden und Halbtoten Kantors Vermächtnis: »Alle sind gleich, die Menschen sind alle gleich.« Michaela Ott

Noch bis 10. März, 20 Uhr, Hebbel- Theater.