: Ruhigstellung mit dem Fernseher und der Chemie
■ Im Ostteil leben viele Körperbehinderte in Altenheimen / Ex-DDR hatte keine eigenen Einrichtungen für dauerhafte Behinderten-Pflege
Ost-Berlin. Im 16-Quadratmeter- Zimmer stehen zwei Fernseher unmittelbar nebeneinander wie die Betten an der gegenüberliegenden Zimmerwand. Ein Bett und ein Fernseher gehören Joachim Sass. Er ist psychisch krank und Mitte vierzig. Ralf Kleiderling, sein Mitbewohner, ist 31. Er hat Kinderlähmung und sitzt im Rollstuhl. Beide teilen sich im Ostberliner ALtenheim »Klara Schnabel« seit vier Jahren dieses Zimmer, leben dicht an dicht unter über 70jährigen Menschen. Ralf Kleiderling ist auf Pflege angewiesen. Nachdem seine beiden Eltern kurz nacheinander 1988 gestorben waren, konnte sich niemand mehr um ihn kümmern. Kleiderling kam ins Altenheim.
»Abhauen darf ich nicht, denn das kann ich ja nicht,... schwierig,... ich kann ja nicht abhauen, das ist ja schwierig«, kommentiert er wirr und tief seufzend seine Lage. Er ist, wie sein Zimmergenosse, psychisch nicht gesund. [Wer kann das schon von sich behaupten? - d.S.] Vielleicht ist das die Folge einer lebenslangen Isolation von Gleichaltrigen und der »gesunden Welt«. Vielleicht ist es auch ein Symptom seiner physischen Krankheit. Schwester Krista, die ihn betreut, kann das nicht beurteilen. »Wir kriegen die Leute hier rein, und wissen gar nicht, warum sie so sind, wie sie sind. Das ist ja ein Altenheim hier, da können wir nicht alles nachforschen«, erklärt sie. Der Allgemeinmediziner, der allein die 220 Pflegefälle, davon 25 »strukturrelle Fehlbelegungen«, das heißt Behinderte betreut, ist überfordert. Wenn Ralf Kleiderling »Sorgen macht«, wie er es selbst traurig nennt, und ihn manchmal einfach »die Wut, die kommt«, packt, ist für die Schwestern »medikamentöse Ruhigstellung« angezeigt. Wenn der Fernseher nicht mehr hilft, dann muß immer wieder die Chemie einspringen.
So wie Ralf Kleiderling leben in Ostberliner Altenheimen nach Schätzungen des Behindertenverbandes etwa 3.000 Menschen. Andreas Stolz (26) ist hauptamtlicher Mitarbeiter des im Januar 1990 neu gegründeten Behindertenverbandes »Ost« und war aufgrund seiner Querschnittslähmung selbst im Alter von 22 Jahren zwölf Monate lang im Altenheim. Heute kann er sich nach viel Übung selbst versorgen. »Ich wünsche das niemandem, daß er zwischen 80- und 90jährigen herumvegetieren muß. Das ist einfach beschissen«, empört er sich Andreas Stolz rückblickend. Doch kurz- und mittelfristig sieht auch er keine Lösungen. »Es fehlen die Objekte. Die Leute können ja nirgends hin«, stellt Stolz resigniert fest.
Tatsächlich gab es in der ehemaligen DDR keine eigenen Einrichtungen für die dauerhafte Pflege von Behinderten. Wer von der Familie nicht mehr gepflegt werden konnte, kam ins Altersheim. Die »Wende« hat da keine Besserung gebracht. Vor dem 3. Oktober wurde zwar von Politikern vieles versprochen, eingelöst wurde aber wenig. Ein behindertengerechtes Haus in Rahnsdorf war zum Beispiel dem neuen Ost-Verband letztes Jahr zugesagt worden, sogar eines, das tauglich gerwesen wärte. Heute wohnt in diesem Haus der Bonner Verkehrsminister Günter Krause (CDU). Die Behinderten sollen mit einer für sie nicht nutzbaren Bruchbude abgefunden werden. »Da müßten wir erstmal 200.000 Mark reinstecken, um Rampen für die Rollstühle zu bauen«, meint Andreas Stolz. Mit 800 Mark pro Monat, die dem Verband für fünf hauptamtliche Mitarbeiter und Büroräume zur Verfügung stehen, ist das jedoch völlig untragbar. Angesichts dieses Etats ist es fraglich, ob die Ostberliner Behinderten ihre Interessen in Zukunft ausreichend wahrnehmen können. Aktionen und Informationsblätter können bisher nur aus Spenden finanziert werden.
Die Westberliner Behinderten wollen mit Recht ncihts abgeben, Kürzungen zum Beispiel beim Behindertentransport Telebus nicht hinnehmen, mühsam einmal erkämpftes Terrain und gewonnene Rechte nicht aufgeben. Vielmehr als gute Ratschläge im Umgang mit den Behörden können die im ehemaligen Osten von ihnen nicht erwarten.
Die Behörden selbst aber sind ratlos und übertreiben, so die Befrüchtungen bei machen Behindertenprojekten, Politik mit dem Rotstift. 4.500 Pfelegeldanträge aus dem Osten stapeln sich zur Zeit. Die Abbaupraxis ist nach Erfahrungen, die Betroffene aus dem ersten Gesamtberliner Behindertenplenum am vergangenen Montag äußerten, simpel: viele Anträge werden einfach abgelehnt.
Doch selbst wenn Pflegegeld bewilligt wird, bekommt ein Ost-Berliner Behinderter nur 59 Prozent des üblichen West-Satzes. Gelder für Rollstühle sollen nach Auskunft der Behindertenabteilung in der Sozialverwaltung zu 40 Prozent des Normalsatzes im Osten gezahlt werden. Wie ein 40prozentiger Rollstuhl aussieht, weiß freilich niemand! Mit verwaltungstechnischen Ungereimtheiten und Entscheidungen schlichter Ignoranz wird Zeit verschwendnet. Zeit, in der die Zustände immer mehr zum Himmel schreien.
Ralf Kleiderling wird noch lange bleiben müssen, denn er kann es mit der neuen West-Verwaltung genauso wenig aufnehmen wie mit der alten Ost-Verwaltung. Gunnar Tausch
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