: Zwischen den Buchstaben die Wüste
■ Wie man das Ich im Text erschafft
Die Gestalt des Selbst geht dem Text nicht voraus und steht nicht außerhalb, sondern bildet sich überhaupt erst in ihm. Das Selbst hebt sich auf und entsteht neu in jener Spur, die die Geste der schreibenden Hand hinterläßt — diese elementare Geste, die eine Form bildet, das Netz einer Struktur ausbreitet und ein Gewebe herstellt. Es handelt sich bei der Arbeit der Schrift um die Arbeit an einer Oberfläche, die es nicht nötig macht, in irgendwelche „Tiefen“ des Selbst vorzudringen.
Das sind die Erkenntnisse, die Kathy Acker, die New Yorker Punk- Schriftstellerin, in einem Gespräch vermittelt, das Sylvère Lotringer 1989/90 mit ihr führte. Es ist für sie nicht wesentlich, ob es sich um die Kreativität einer eigenen Schrift oder um den Akt einer Abschrift handelt: Der bloße Akt der Schrift bildet auf jeden Fall eine Metapher des Selbst, um es zu verdoppeln, zu vervielfältigen und zu kristallieren. Der Stil der Existenz zeichnet sich in der Linie ab, die die leere Fläche des Papiers durchfurcht und den weißen Raum gestaltet. In dieser Schrift formt und berichtigt man sich selbst; sie ist das Signum einer beständigen Selbstübung.
Einige Schreibübungen von 1979 bis 1990 sind in dem von Almuth Carstens herausgegebenen Band abgedruckt. Kathy Acker stellt beispielsweise autobiographisches Tagebuchmaterial neben Tagebuchimitationen. „Ich versuchte herauszufinden, wer ich nicht war und nahm dazu Texte von Mörderinnen. Ich schrieb sie einfach in die erste Person um.“ Die Schrift ist die Schaffung einer Distanz zu sich selbst, die Eröffnung eines Raums der Freiheit, in dem das Selbst sich formt, während es auf sich wie auf einen Anderen blickt. Es ist ein Experiment, „ein Experiment mit Identität vermittels der Sprache“. Es geht in der Schrift nicht um die Identität, sondern um den Verlust des Namens. Es geht darum, sein Gesicht zu verlieren in der Schrift.
In der Schrift begegnet das Selbst dem Anderen, es konstituiert und transformiert sich in dieser Erfahrung. „Identität ist etwas, das man selbst schafft, nicht etwas, das einem per se mitgegeben ist. Was mich dann mehr interessierte, war nicht das Ich, sondern der Text, denn es sind Texte, die Identität kreieren.“ Auf diese Weise wird die Schrift zur Inschrift der Existenz und Exegese des Selbst. Man schreibt, um schließlich ein anderer zu sein als der, der man ist. In der Schrift spaltet Kathy Acker das Ich auf, um zu sehen, ob ein „falsches“ Ich mehr oder weniger real wäre als das „echte“ Ich. Sie bejaht die Vorstellung, „daß man nicht unbedingt eine zentrale Identität haben muß, daß eine gespaltene Identität ein entwicklungsfähigeres Modell für diese Welt ist“.
Dieses Selbst, das in der Schrift entsteht, ist eine Montage und eine Collage. So kommt es, daß es beispielsweise seine Geschlechtszugehörigkeit spielend wechseln kann und ständig aus den verschiedenen Perspektiven spricht. Es gibt hier keine lineare Erzählweise, ebensowenig eine kontiunuierliche Identität. Das Ich, sagt Kathy Acker, „war für mich erledigt, als ich merkte, daß man selbst das Ich erschafft, und daß das, was das Ich ausmacht, Texte sind.“ Die Schrift ist ein Medium der Kunst, sein Leben zu führen und zu gestalten, ist eine Geste der Existenz und der Gestaltung seiner selbst. Das Individuum formt sich in dieser Tätigkeit, erarbeitet sich die Möglichkeiten seiner Existenz und seiner Transformation.
Was entsteht, ist eine Struktur, aber diese Struktur hat kein Zentrum, kein absolut kommandierendes Subjekt. Das Experiment mit sich selbst spiegelt sich im Umgang mit Texten. „Man nimmt fremde Texte und stellt sie in andere Zusammenhänge, um zu sehen, wie sie dann wirken.“ Diejenigen haben gut reden, die sagen, man müsse seine Stimme finden, oder man müsse sogar auf seine „innere Stimme“ hören: Was soll das schon sein, die eigene Stimme? „Ich konte meine eigene Stimme nicht finden, ich wußte nicht, was meine eigene Stimme war. Und ich bin sicher, das war der Punkt, an dem ich anfing, mit unterschiedlichen Stimmen zu schreiben und mich mit Schizophrenie zu beschäftigen.“ Das Ich ist nichteine Stimme, das Ich ist vielstimmig. Es bewegt sich am Schnittpunkt der Stimmen, die sich in ihm überkreuzen; es entfaltet sich auf der weißen Fläche des Papiers und bewegt sich wie ein Nomade von einer Oase zur anderen; zwischen den Buchstaben die Wüste.
Das Ich wird zur Performance in der Konstituierung des Texts. Aber Schrift ist für Kathy Acker nicht nur die Schrift auf dem Papier. Sie versteht die Inschrift der Existenz auch noch auf eine andere Weise und beschriftet ihren Körper mit Tätowierungen. „Ja, weil der Körper Text ist. Ich würde ihn aber nicht als sexuell bezeichnen.“ Die Herstellung des Selbst geschieht nicht nur in den Texten, die man schreibt oder montiert, sondern auch in dem Text, der der Körper ist. „Der Körper ist so umfassend, wer kontrolliert ihn? Er ist wie Text. Wenn du schreibst, kontrollierst du dann den Text? Wenn du tatsächlich schreibst, tust du das nicht, du fickst mit ihm.“
Die Aufspaltung von Kunst und Körper geht damit zu Ende. Die Kunst ist nicht mehr das, was dem Leben gegenübersteht, sondern was es durchdringt und gestaltet. Wenn Kathy Acker danach fragt, ist sie zugleich dabei, durch ihre eigene Verfahrensweise, nicht durch eine theoretische Abhandlung, bereits die Antwort zu geben: Kunst ist die Technik der Existenz und die Technologie des Selbst. Sie versucht es ein ums andere mal einzuüben und auf die ihr eigene Weise zu demonstrieren, anhand bestimmter Sprachen, die ihr besonders am Herzen liegen: „Verlassen wir uns ruhig auf die verderbtesten Sprachen, wie die der Pornographie und die der Moral.“ Wilhelm Schmid
Kathy Acker: Ultra light — last minute — ex+pop-literatur . Herausgegeben und übersetzt von Almuth Carstens. Merve Verlag, Berlin 1990, 175 Seiten, 20DM
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