Die charakterliche Besonderheit des DDR-Bürgers

■ „Der Gefühlsstau“: Eine Untersuchung des Psychotherapeuten Hans Joachim Maaz über die Folgen der repressiven Erziehung in der ehemaligen DDR

Im Kunstschwimmen ist eine Wende eine unter der Wasseroberfläche gedrehte Kreisbewegung des Rückenschwimmers; nach ihr schwimmt der Athlet wieder in der gleichen Bahn wie vorher und, weil er in der Rückenlage die Augen nach oben hat, ohne zu sehen wohin. In diesem Bild, das dem Buch von Hans-Joachim Maaz Der Gefühlsstau als Illustration vorangestellt ist, sieht dessen Autor offensichtlich die momentane psychische Verfassung der Menschen aus der ehemaligen DDR.

Pünktlich zur Wiedervereinigung im Herbst ist dieses „Psychogramm“ der DDR-Deutschen erschienen. Maaz schrieb es aus seiner zehnjährigen Erfahrung mit therapeutischen Gruppen an der Klinik der Evangelischen Diakonie in Halle, in der er die Nische der Kirche nutzen konnte, um eine auf psychoanalytischem Gedankengut beruhende, körperbezogene Therapie zu praktizieren.

Bei den meisten Patienten überraschte Maaz ihr Bedürfnis nach Abhängigkeit und autoritären Verhaltensanweisungen. Enttäuschte er diese Erwartungen in der Therapie, kam in der Regel ein für ihn überraschend großes Potential an Aggressionen und Haß zum Vorschein, und wenn diese Gefühle ausgedrückt waren, eine unerfüllte Sehnsucht nach Nähe und Liebe.

Maaz führt dies auf die Erfahrungen zurück, die die Menschen in der DDR von Kindesbeinen an machen mußten. Ihre natürlichen Grundbedürfnisse wurden nicht befriedigt, das Bedürfnis nach guter Nahrung und eigenem Rhythmus, nach ungehindertem Fühlen und Denken, nach Lieben, Geliebtwerden und Verstandensein. Dies hinterließ einen Zustand von Spannung, Unzufriedenheit und Angst, den er als „Mangelsyndrom“ bezeichnet. Der äußere Mangel der DDR-Gesellschaft wurde so durch einen inneren verstärkt. Um als Erwachsene der schmerzlichen Erfahrung auszuweichen, daß man um die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse betrogen wurde, hätten sich die Menschen von ihrer Innenwelt abgeschnitten. Die Folge war ein Gefühlsstau: Menschen, die „beherrscht, gebremst und gehemmt“ waren, ganz im Sinne des geforderten Ideals einer kontrollierten Persönlichkeit, die ihre Gefühle hinter einer Maske der Wohlanständigkeit verbirgt.

Die Hemmung der Spontaneität und vor allem der Aggressivität ist in den Augen von Maaz die entscheidende charakterliche Besonderheit des DDR-Bürgers, Erich Honecker dafür die Personifizierung: Trotz aller Machtausübung war er als Person genauso steif, unsicher, ängstlich, verbissen und zwanghaft wie viele Menschen in der DDR. „Ein gehemmter Despot! Das ideale Abbild der vorherrschenden Charakterstrukturen in unserem Land“, wie Maaz schreibt. Positive Qualitäten aggressiver Kraft wie Zupacken, Sich-Abgrenzen oder Eigenständig- Sein waren erstickt unter Anpassung und Unterwerfung. Honecker verschwand folgerichtig im politischen Nichts, als er sich in seiner Starrheit keinem großen Bruder mehr unterordnen konnte.

Die Liste von Maaz, was in der DDR alles ein gesundes Wachstum des Menschen verhinderte, dürfte dem Westleser sehr vertraut sein: staatliche Macht, autoritäre Erziehung, verklemmte Sexualmoral, Apparatemedizin, unmenschliche Krankenhausgeburten. All das kommt auf die Anklagebank. Für einen Westleser zuweilen plakativ, wenn einem die Anschauung für das Gesagte fehlt. Zum Beispiel spricht Maaz von der „Topfzeit“, an die die Kinder wie an die „Essenszeit“ und die „Schlafzeit“ in den Krippen gewöhnt wurden. Um deren bitterböse Absurdität zu verstehen, muß man eine Krippe gesehen haben, in der für jedes Kind ein eigenes Klo vorhanden ist — damit alle Kinder zur gleichen Minute auf den Topf geschickt werden können.

Als Westleser fühlt man sich erinnert an die repressive Erziehung, die weiland von der Studentenbewegung kritisiert wurde. Staatliche und familiäre Repression, so meint Maaz, gingen auch in der DDR Hand in Hand. Die gemeinsame Devise: Das Kind soll nicht so sein, wie es ist, sondern wie man es haben will. Hatten wir also in der DDR in ungebrochener Folge die durch Staat, Familie und Sexualmoral gefügig gewordenen Deutschen, über die Wilhelm Reich 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus schrieb? Den „autoritären Charakter“, der Adorno zufolge den Faschismus den Faschismus ermöglichte?

Maaz attestiert nationalsozialistischen und sozialistischen Funktionären die gleiche Schwäche; sie hätten sie nur unterschiedlich ausgelebt: die einen in psychopathischem Größenwahn aggressiv nach außen, die anderen in ihrer kleinlichen Gehemmtheit zwanghaft nach innen.

Leider geht Maaz an dieser Stelle nicht weiter, fragt nicht danach, ob vielleicht die deutsche Geschichte so etwas wie eine „deutsche Mentalität“ hervorgebracht hat, die sich unter verschiedenen politischen Systemen nur unterschiedlich äußert. Sein Buch verweilt in der Beschreibung. Man merkt ihm an, wie es unter einem enormen Druck des „Dampfablassens“ in Eile dahingeschrieben wurde, in der Sprache seiner Anklage, zum Beispiel im ständigen Gebrauch kraftvoller Adjektive wie „massenweise“, „inständig“, unweigerlich“, noch dem Ausschließlichkeitsdiktus der Sprache des angegriffenen Systems verhaftet.

Man bleibt als Westleser mit einer weiteren Frage zurück: Unterscheiden sich die psychischen Störungen des Deutschen-Ost vom Deutschen- West? Auf den ersten Blick fällt, bei allen Parallelen, eines ins Auge: Symptome der seelischen und materiellen Überfütterung, wie sie im Westen beispielsweise vor zehn Jahren unter dem Stichwort des „Neuen Sozialisationstypus“ diskutiert wurden, eines Jugendlichen, der infolge einer übermäßig engen und übermäßig langen innigen Bindung zur Mutter nicht selbständig wird, solche Symptome werden bei Maaz nicht beschrieben. Oder ein anderes Beispiel: Eine (Eß-)Störung wie die Bulimie, die mit den neuen Rollenanforderungen an die selbstbewußte, erfolgreiche und schlanke Frau zusammenhängt, war in der DDR kaum bekannt. Doch solche, mehr für seine psychotherapeutischen Berufskollegen interessanten Fragen nach der Auswirkung politischer Verhältnisse auf seelische Störungsmuster stehen bei Maaz nicht im Mittelpunkt. Sein wesentliches Ziel ist vielmehr ähnlich dem, das Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 mit ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern verfolgten: Die Menschen in der DDR zur Auseinandersetzung mit all den Gefühlen zu bewegen, die sie mit der Vergangenheit verbinden, mit den ganz persönlichen Erfahrungen von Enttäuschung und Kränkung, Unterlassung und Schuld. Wenn sie sich dieser Gefühle nicht bewußter werden, so will Maaz ihnen offensichtlich sagen, werden sie wieder nach den äußeren Verhältnissen suchen, in denen sich einzurichten sie gewohnt sind. Plakativ gesagt: Wer als seelisch gehemmter, passiver Untertan zu leben gelernt hat, wird nach einer neuen Möglichkeit suchen, sich zu unterwerfen, weil er sich sonst mit seinem ganzen inneren Elend konfrontieren müßte.

Wenn er aber diese Konfrontation wagt, hat er die Chance, auch innerlich frei zu werden. Ein notwendiges Plädoyer, für das unter der Last der materiellen Probleme ein offenes Ohr — und ein offenes Herz — zu haben, sicher nicht einfach ist. Aber ein Plädoyer für etwas, das in der Politik wie in der Therapie der einzig sinnvolle Umgang mit einer belastenden Vergangenheit ist: sich ihrer bewußt zu werden, um sie mit all ihren Schrecken (und Freuden) annehmen zu können. Ulfried Geuter,

Dipl. Psychologe, West-Berlin

Hans Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Argon-Verlag, 1990, DM 19,80