Feilschen vor Gericht um Lainzer Sterbeziffern

■ Hauptangeklagte will getötet haben, um zu helfen

Wien (taz) — Im größten Mordprozeß der österreichischen Justizgeschichte stehen seit vergangener Woche in Wien drei Stationsgehilfinnen und eine Krankenschwester wegen Mordes vor Gericht. Waltraud Wagner (32), Irene Leidolf (29), Maria Gruber (29) und Stefanija Mayer (51) werden beschuldigt, im Krankenhaus Lainz bei Wien zwischen 1983 und 1989 vierzig alte Menschen getötet zu haben.

Bereits am zweiten Tag des Mordprozesses ahnten die Sensibleren unter den Besuchern, daß sie das Wichtigste auch in diesem Prozeß nicht erfahren würden: wie es dazu kommen kann, daß gesunde Menschen hilfsbedürftige Patienten töten, statt sie zu pflegen. Zwar bemüht sich Staatsanwalt Ernst Kloyber, neben den schweren Vorwürfen auch die physischen und psychischen Belastungen der Angeklagten vorzutragen. Gleichzeitig sagt er über die Hauptangeklagte, sie habe „es genossen, die Macht zu haben, Herrin über Leben und Tod zu sein“. Im Grunde ist es ein Feilschen um Sterbeziffern zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigern. Das Publikum kommentiert die mathematische Kosmetik der Straftaten durch derbe Zwischenrufe und Klatschen.

Die Angeklagte Wagner muß sich gegen Richter Peter Straub nicht wehren und redet. Sie gibt zehn der 35 angeklagten Tötungen von Patienten zu. „Das ist unter uns Schwestern besprochen worden, daß das vielleicht gut ist, daß man den Leuten, die nur noch stöhnen und schreien, so helfen kann.“ Was sie damit meine, fragt der Richter. „Vom Schmerz befreien“ wollte sie und helfen, indem sie tödliche Rohypnol-Spritzen gab und Mundpflege machte. So heißt in Österreich das Befeuchten der Mundhöhle mit einem Spatel bei Patienten, die nicht aus eigener Kraft trinken können. Bei der von ihr verabreichten „anderen Mundpflege“ hat sie „ein Schlückchen Wasser“ nachgegossen. Die Patienten sind dann qualvoll erstickt. Die vor der Polizei zugegebenen 35 Fälle habe sie „unter Druck zugegeben — ich war so fertig, mir war alles egal“. Der Zustand der Hauptangeklagten Wagner ist auch am fünften Prozeßtag konstant. Konstant elend. „Sie war eine Persönlichkeit“, beliebt auf der Station, berichtet die Angeklagte Stefanija Mayer, aber auch, daß sie eine „Hexe“ sei. „Sie hat mich benützt. Ich hab' mich nicht wehren können — aber ich habe nie einen Menschen getötet.“ Bei sechs bis sieben Mundpflegen will sie Wagner assistiert haben. Und Maria Gruber sagt, sie sei durcheinander gewesen. So durcheinander, daß sie zwei Morde gestand, ohne einen einzigen verübt zu haben. Im Vorfeld hatte sie ihr Geständnis fünfmal hintereinander unterschrieben. Irene Leidolf, die beschuldigt wird, fünf Morde verübt zu haben, hat ebenfalls die Idee „von der Waltraut“. Die Patienten, die an ihren Rohypnol-Spritzen gestorben sind, waren ohnehin „schlecht“. Schlecht, weil bettlägerig, nicht sprachfähig und alt.

In den bisherigen Prozeßtagen wurde deutlich, daß Mängel in der ärztlichen und organisatorischen Aufsicht der 1. Medizinischen Abteilung die Tötungen mindestens begünstigten. Der Leiter der betroffenen Abteilung, Franz X. Pesendorfer, wurde nach Bekanntwerden der Tötungen vom Dienst suspendiert, dann begnadigt, erneut suspendiert, was vom Obergericht aufgehoben wurde. Am 28. Juni warf er dann endgültig das Handtuch, ohne sich nach eigenen Worten schuldig gefühlt zu haben. Daniel Glattauer/bel