„Kriegsgewinnler“ sollen Flüchtlinge aufnehmen

Die albanischen Boat people geraten in politische Gewitter/ In Brindisi sprangen Tausende über Bord/ Mehr als 6.000 neue Asylaspiranten auf See blockiert/ Italien will den Flüchtlingen kein politisches Asyl gewähren/ EG läßt sich Zeit  ■ Von Werner Raith

Otranto/Spezzano Albanese (taz) — An Nächstenliebe hat es Ariano D'Angelo bisher noch nie fehlenlassen. „Wenn einer zu mir kommt und ist in Not, bin ich der letzte, der Hilfe verweigern würde.“ Doch wenn er aus seinem Fenster über den Hafen von Otranto guckt, dann „ist das da draußen entschieden zu viel, was da auf uns zukommt“. Fast an der Horizontlinie sieht man mehrere Gruppen von jeweils fünf oder sechs Schiffen. Ariano weiß von seinem Bruder, der Fischer ist, „daß das wieder so Flüchtlingsschiffe aus Albanien sind, mit bald zehntausend Leuten an Bord“. Die um sie herumfahrenden kleineren Boote sind die der Küstenwache, die seit Mittwoch dieser Woche alle nichtautorisierten Wassergefährte an der Einfahrt in die unteritalienischen Häfen hindern.

Seit vergangener Woche herrscht hier Großalarm: Schon mehr als 4.000 Flüchtlinge sind in den letzten zehn Tagen an Land gegangen, und die meist sehr kleinen Küstenorte — Otranto hat kaum 5.000 Einwohner — sehen sich außerstande, so viele Personen auch nur kurzzeitig zu bewirten. Das Innenministerium und das für Zivilschutz sind angerückt, haben den Kindern in Otranto, Lecce, Monopoli und zum Teil auch in Bari schulfrei erteilt und die ersten Hundertschaften in den Schulen untergebracht. Da dies nicht reicht, wurden nun auch die umliegenden Campingplätze requiriert; und genau da kommt es nun zur Interessenkollision mit Ariano: Ihm gehört einer der „Campeggi“, die nun besetzt wurden — „und dagegen hätte ich auch gar nichts, es ist ja Winter, der Platz an sich geschlossen. Nur: wie das so bei uns geht — zuerst heißt es, das ist nur für einen Monat, hernach wird ein Jahr draus, danach eine Dauerbleibe — und ich, was mache ich?“ Daß der Staat sich großzügig bei der Entschädigung erweisen könnte, schließt Ariano aus: „Die haben schon bei den Besetzungen wegen der Erdbeben das Blaue vom Himmel versprochen und nicht gehalten — und dabei ging es noch um Italiener, die ja immerhin als Wähler gebraucht werden. Für die armen Schweine da werden sie überhaupt nichts zahlen.“

Da könnte er nicht weit von der Wahrheit entfernt liegen. Italiens Regierung zeigt sich derzeit in humanitären Fragen nicht sonderlich kooperativ: zu sehr lastet im Augenblick das Debakel des Golfkrieges auf der Administration. Nachdem man sich breit und bequem in den Sesseln des Siegers niederlassen zu können glaubte, hat die Weigerung des US-Präsidenten Bush, Außenminister De Michelis zu empfangen, zu bösen Verwerfungen geführt. Was immer nun an internationaler politischer Unbill in den nächsten Wochen auf Europa zukommt, das haben sich die italienischen Regenten geschworen, sollen gefälligst die anderen Partner ausbaden.

So erging bereits vorige Woche ein dringendes Ansuchen an die EG, die neuen Flüchtlinge durch die Bank in anderen Ländern unterzubringen. Und da die Brüsseler nicht sofort geantwortet haben, setzen die Italiener voll auf Mauern. Zwar sind die 6.500 Flüchtlinge auf den Schiffen „Liria“ und „Tirana“, denen das Anlegen in Brindisi verweigert worden war, gestern Morgen zu Tausenden über Bord gesprungen und an Land geschwommen. Doch Rom will die Albaner nicht weiter als politische Asylanten einstufen, sondern nach dem Ausländergesetz behandeln. Danach dürfen Personen von außerhalb der EG nur einreisen, wenn sie einen Arbeitsplatz nachweisen können. Daß die Flüchtlinge weitergereicht werden sollen, finden sie gar nicht schön bis „entsetzlich“, so Mirko Kemal Bey, Ingenieur aus Tirana: „Wir wollen hierher, denn hier fühlen wir uns fast zuhause.“

Für dieses „Zuhausefühlen“ gibt es einen handfesten Grund — das Fernsehen. Nahezu alle großen italienischen Sender kann man in Albanien empfangen, und so haben viele der Ankömmlinge schon ein ganz passables Italienisch parat. Daß sie ein Land hinter sich lassen, dem sie den baldigen Bürgerkrieg prophezeihen, wirkt in der stereotypen Wiederholung schon fast abstrakt; viel konkreter sind Sätze wie, daß man doch in Italien „gute Facharbeiter braucht“, aber auch „Handlanger, weil keiner die einfachen Arbeiten erledigen will“, mitunter versetzt mit bösen Spitzen gegen die farbigen Immigranten, von denen man gehört habe, daß die „auch Drogen bringen und zur Kriminalität neigen“. Überdies, auch das wissen alle, gibt es in Unteritalien und Sizilien mehrere Dutzend Ortschaften mit Nachfahren der im 16. und 17. Jahrhundert vor den Türken geflohenen christlichen Albaner.

Dort freilich ist man über die Neuzugänge hin- und hergerissen. Zwar haben die „Albanesi“ ihre eigene Kultur bis heute bewahrt, sprechen untereinander sogar Albanisch — aber ihre Orte gehören zu den ärmsten in ganz Italien. In Spezzano Albanese zum Beispiel tagte am Mittwoch eine Art Notstandsrat: Was machen wir, wenn die uns noch mehr Asylanten herschicken — es gibt in diesen kleinen Städten schon mehrere hundert, die bei der letzten Welle Ende 1990 herkamen. „Doch so gerne wir helfen wollen“, so ein Stadtrat unter beistimmendem Gemurmel der Einwohner, „wir haben 10.000 Einwohner, und von denen sind mehr als tausend arbeitslos. Wie können wir da noch mehr Menschen miternähren?“

Einfach abschieben möchte man die weitläufig Verwandten auch wieder nicht. Ene Anfrage um Mittel aus Rom hat die akzentuierte Antwort erhalten, man habe „leider für den Golfkrieg so viel Geld ausgeben müssen, da ist keines mehr für Hilfen solcher Art da“. So etwas läßt natürlich die Wut wachsen. Und so rät ein Flugblatt den Flüchtlingen in Otranto, „sich ihr Überleben von Kriegsgewinnlern garantieren zu lassen“. Oder aber, so ein anderes Manifest, „den Papst aufzufordern, von den internationalen Hilfsgeldern für den Orient wenigstens einen bescheidenen Betrag abzuzweigen für Menschen, die ebenso in Not sind, aber nicht auf das schlechtes Gewissen der Kriegssieger zählen können“.