INTERVIEW
: Philosophieprofessor: „Ich bin gegen das Aufhören“

■ Bernd Okun, Professor für Philosophie an der Leipziger Universität, Sektion Journalistik, erhielt trotz Studentenprotesten den Abberufungsbeschluß des damaligen Ministerrates

Bernd Okun (46) ist Professor für Philosophie und arbeitete bis zur Wende in der Sektion Marxismus-Leninismus. Auch ihn traf trotz starker Studentenproteste im Sommer letzten Jahres der Abberufungsbeschluß des damaligen Ministerrates. Inzwischen lehrt er als Oberassistent an der Sektion Journalistik, seinen Titel durfte er beibehalten.

taz: Anfang Februar gab es eine Phase, in der die Mehrzahl der Mitarbeiter an der Sektion Journalistik beschlossen hatte zu gehen. Es entstand der Eindruck, die Sektion bräche in sich zusammen. Inzwischen gibt es aber Gegentendenzen. Auch Sie gehören zu denen, die bleiben wollen. Was sind Ihre Gründe?

Bernd Okun: Wenn wir aufhören, werden die Studentenproteste entwertet. Die Studenten waren es ja hauptsächlich, die mit ihren Aktivitäten die Fortsetzung des Hauptstudienganges Journalistik bei Meyer durchgesetzt haben. Und damit haben sich die Gewerkschaft Medien und der DJV solidarisiert. Außerdem gibt es die Bereitschaft vieler westlicher Kollegen, bei der Neuprofilierung der Sektion mitzumachen.

In einem Monat nun wird ein neues Studienprogramm eingeführt, das Übergangscharakter trägt. Dazu bedarf es aber der Auseinandersetzung innerhalb der Sektion darüber, was bisher gelehrt wurde. Gab es in dieser Hinsicht inzwischen weitere inhaltliche Diskussionen?

In den Wirren dieser ganzen Ereignisse seit der Abwicklung waren Klima, Raum und Zeit für solche wichtigen Dinge noch nicht gegeben. Das sind Nachteile dieser Abwicklung. Die innersektionellen Auseinandersetzungen wurden aber seitdem nicht weitergeführt.

Zur Zeit werden neue Strukturen aufgebaut, für die dann auch einzelne Wissenschaftler eingeplant werden müssen. Andererseits ist aber nicht klar, wer bleiben darf, da sich alle auf der „Warteschleife“ befinden.

Hier ist vieles in der Anlage der Abwicklung unlogisch. Die Gründungskommission baut jetzt Strukturen auf und plant auch Leute mit ein, die dann möglicherweise nicht durchkommen. Das ist alles höchst unsicher. Das ist auch einer der Gründe, warum Wissenschaftler hier gehen. Sie kriegen einen Vierteljahresvertrag bis 31.März, dann, wenn sie Glück haben und weitermachen dürfen, bis 30.Juni. Danach vielleicht wieder bis Jahresende. So geht Lebenszeit hin im Hangeln von Vierteljahresvertrag zu Vierteljahresvertrag. Das ist doch entwürdigend. Das trifft unterschiedslos alle.

Warum wollen Sie dann trotzdem weitermachen?

Ich bin gegen das Aufhören, wie ich schon sagte. Wenn wir aufhören, bricht die Sektion zusammen und es kann passieren, daß nichts mehr nachfolgt. Das halte ich angesichts der geplanten Dreiländeranstalt hier in Leipzig für eine Katastrophe. Ein weiteres Argument für mich ist, daß es heute keine Entscheidung mehr gibt, in der ich mich dauerhaft für das Gute und dauerhaft gegen das Böse richten kann. Indem ich weitermache, unterwerfe ich mich zwar entwürdigenden Bedingungen, zugleich aber habe ich die Chance, hier etwas zu beeinflussen, es mitzubestimmen und eine hundertprozentige Fremdbestimmung von oben oder allein durch Westdeutsche zu verhindern. Das bin ich den Studenten und meinen Kollegen schuldig. Wir brauchen hier eine Konfliktfähigkeit, die uns in unserer Geschichte nicht anerzogen wurde.

Was glauben Sie als Philosoph Originäres in den neuen Hauptstudiengang einbringen zu können?

Ich denke, ich kann etwas einbringen, indem ich zum Beispiel den Ansatz von Kuhn, der damals die Wissenschaftsentwicklung thematisiert hat, verwende, um bestimmte Strukturen und Verhaltensweisen von politischen Akteuren in der politischen Kommunikation zu erfassen.

Welche Relevanz hat dies für die Journalistenausbildung?

Ich denke, daß damit etwas eingebracht werden kann für die Ausbildung kritischer Journalisten, die Bescheid wissen müssen über die Probleme, vor denen die moderne Gesellschaft steht. Sie müssen journalistische Vermittlung einordnen können in die Grundprobleme unserer Zeit.

Welche Potenzen sehen Sie insgesamt für die Sozialwissenschaften auf dem Gebiet der ehemaligen DDR?

Meine These ist, daß von den Sozialwissenschaften unverwechselbare Impulse ausgehen werden, die gesamtdeutsch zur Diskussion anstehen werden. Weil sie in ein, zwei Jahren den Literaturstandard des Westens aufgearbeitet haben werden, ohne in die konkreten Diskurse verstrickt zu sein. Sie haben den Kopf freier. Außerdem haben sie Erfahrungen mit zwei Systemen. Sie kennen das alte, mußten damit zurechtkommen und mußten sich in eine neues einpassen. Da der Transformationsprozeß noch Jahre dauern wird, die innere Mauer noch lange besteht und immer deutlicher wird, daß die Spezifik der DDR nicht unterschätzt werden darf, ist diese Fähigkeit, das alte System zu kennen, eine unerhört kognitive Potenz. Das Dritte ist diese dauernde Gängelei durch Westleute, das bringt bei vielen eine interessante Motivation hervor: Ich zeig es ihnen. Und das vierte Argument, das für diese These spricht, ist, daß man die DDR vergleichen kann mit einem einzigen Fahrrad-Zweiterfindungssystem. Immer fehlte etwas, immer mußte das Fahrrad zum zweiten Mal erfunden werden. Das hat aber ein Improvisationsvermögen hervorgebracht, was den Westdeutschen verlorengegangen ist. Wenn diese vier Faktoren zusammenwirken, dann ist doch hier was drin. Zur Zeit sehe ich immer nur „Rote Kloster“, „Altlasten“ und „alte Seilschaften“. Das ist kein Konzept, mit der ein Staatsminister in die Zukunft vorangehen kann, das ist kontraproduktiv.

Sie wollen Journalisten ausbilden. Nun hat ja gerade dieser Berufsstand in der letzten Zeit am meisten gelitten. Es gibt den Vorwurf, daß sich die DDR-Journalisten moralisch diskreditiert hätten. Wie bewerten Sie dies angesichts Ihrer zukünftigen Aufgabe?

Es wird übersehen, daß die Journalisten in der alten DDR eine hochinteressante Berufsgruppe darstellten, keine Gruppe hat sich so wandeln müssen vor den Augen der Öffentlichkeit. Sie haben diesen Wandel in der Regel gut bestanden, und man nenne mir einen Journalisten, der heute in der ehemaligen DDR arbeitet und schon vorher hier gearbeitet hat, der nicht durch die Leipziger Schule gegangen ist — also das Handwerk haben sie mindestens gelernt. Und die Erfahrungen solcher Leute müssen doch hochgehalten werden, statt sie dauernd zu verdächtigen. Ich denke, man muß aufpassen, daß nicht aus einer anderen Systemperspektive moralisierend über diese Kollegen hergezogen wird. Wer nie unter diesem Anpassungsdruck stand, hat nicht das Recht, über sie zu richten. Die ganze Zensur über den Golfkrieg, die ganze Gleichschaltung der Medien würden doch nicht funktionieren, wenn nicht Journalisten auch aus der Altbundesrepublik einen Opportunismus an den Tag legen würden, der bisher nur den alten DDR-Journalisten unterstellt wurde. Das Gespräch führte Vera Linß