Die Schwebeteilchen nehmen zu

■ »Wie bewältige ich die Arbeitslosigkeit?« — ein Urania(-Ost)-Vortrag in der Stadtbibliothek

In einem zwölf Quadratmeter großen, engmaschig bestuhlten Raum im zweiten Stock der Stadtbibliothek sitzen vier Frauen und ein Mann, jeder für sich. Zur Linken öffnet sich die weite Welt, vertreten durch ein hellerleuchtetes Geschäftshaus, zur Rechten wärmt Vergangenheit, schmiegen sich immergrüne Schlingpflanzen an blaßgraue Resopalwände. Ein Plastiktelefon ziert einen Kühlschrank vor zwei Notausgängen. Mit Blick zum Auditorium sitzt eine Mittdreißigerin an einem weiß ausgeschlagenen Tisch, vor sich Folien, neben sich den Overheadprojektor. Die Frau ist Prof. Dr. Toni Hahn und arbeitet im Institut für Soziologie an einer Verlaufsstudie über die psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit für den DDR-Abkömmling. »Zwar bin ich momentan noch nicht in dieser Situation«, erklärt Dr. Hahn. Doch liegt die Forschung offensichtlich auch in ihrem ureigensten Interesse. DDR-Soziologen stehen an vorderster Abwicklungsfront, wie man weiß, Frauen sowieso, erfahren wir später.

Vorerst muß man lernen, wie man das Beste draus macht. Arbeitslosigkeit, erläutert Dr. Hahn, wird nicht von allen als Beeinträchtigung empfunden. Mögliche positive Seiten seien der Zugewinn an Zeit, der in Freizeitaktivitäten gesteckt werden könne. Das wird nicht unwiedersprochen hingenommen. »Von wegen, wer bezahlt mir denn das?« brummt der Herr des Abends. »Nicht alles kostet Geld. Mehr Zuwendung in der Familie ist nicht mit Geld verbunden«, gibt Dr. Hahn zu bedenken. Allerdings verarbeiteten gerade die jungen Leute ohne Anhang und größere Ansprüche die Arbeitslosigkeit am leichtesten, wie die Untersuchungen zeigten. Ja, ja, dieser These kann sich die Zuhörerschaft anschließen. Manche »von denen« wollten gar nicht gern wieder arbeiten. Die kennt man auch, von früher, »Arbeitsbummelanten« hießen die doch. Wenn die aus dem Knast kamen, kriegten sie eine Wohnung und eine Arbeit. Jetzt sind die obdachlos, tönt es von rechts.

Der ältere Herr, freiberuflicher Übersetzer ohne Aufträge, wie er sich vorstellt, hat dagegen eine Informationsfrage. »Wissen Sie eigentlich die derzeitige Quote der Obdachlosen in den neuen Ländern?« Wie so ein Penner am Bahnhof Zoo kommt er sich auch schon manchmal vor. Aber ist die Obdachlosigkeit nicht selbst verschuldet? Man müsse ja nicht Alkoholiker werden oder einbrechen, und wenn einen die Eltern rausschmissen, hätte das auch seine Vorgeschichte. Eine Mittvierzigerin kommt richtig in Fahrt. Dr. Hahn, die eigentlich ihre Studie vorstellen will, gibt zu bedenken, man müsse dieses Problem etwas differenzierter sehen. Ihre zentrale Frage ist: Sind ehemalige DDR-Bürger überhaupt in der Lage, ihre Arbeitslosigkeit zu verarbeiten — wie andere Arbeitslose auch — oder schlägt hier ein gesellschaftliches Problem zu, Stichwort: generelles Motivationsdefizit aufgrund vierzigjähriger Überversorgung?

Ja, so war es, antwortet eine Frau aus der Ecke, »dem DeDeEr-Bürger ist doch immer eingepflanzt worden, daß er überall gebraucht wird.« Wenn man einmal nicht zum Dienst erschien, riefen sie gleich an: Wo bist du, wir brauchen dich. Dabei ist man im Prinzip auch nur beschäftigt worden. »Wir ham doch gegen den Baum gearbeitet«, meint eine andere Frau. Ich habe selbst fünf Hochschulabschlüsse, sagt der Herr. Persönlich kenne ich Hochschulabsolventen, die haben Kisten genagelt. »Man muß optimistisch sein«, fügt er hinzu, sonst könnte man gleich den Strick nehmen.

Zu dieser Einschätzung komme auch die Studie, meint Dr. Hahn, nimmt eine Folie und legt sie auf den Overheadprojektor. Mehrere Reagenzgläser schwingen sich nebeneinander in die Höhe. Der Bodensatz sind die Arbeitslosen, blau eingezeichnet. Ab Januar 91 nehmen die Schwebeteilchen, blaue kleine Punkte, die sich mit dem Bodensatz verschlieren, zu. »Das sind die Kurzarbeiter«. Sie tröpfeln von der Warteschleife, der oberen Begrenzung der Reagenzfüllung sukzessive auf den Bodensatz herunter. »Und das wird zunehmen«, sagt Dr. Hahn im diagnostischen Tonfall. Mehr als Zahlen — »in manchen Regionen wird von fünfzig Prozent Arbeitslosen inzwischen ausgegangen« — kommt die Grafik an, wie sie gemeint ist. »Die wird uns doch aufgedrückt, die Arbeitslosigkeit«, interpretiert eine Zuhörerin. Dr. Hahn spricht unentwegt von Experten und ihren Diagnosen, trotz der aussichtslosen Lage führt sie immer mit der Hochachtung der Vertreterin einer exakten Wissenschaft »die Experten« an, die doch nicht die ihren sein können. Bei ihren eigenen Untersuchungen ist sie vorsichtig. Oft muß noch genauer untersucht werden, warum die Männer sich hier anders als die Frauen verhalten. Die Männer sind blau, die Frauen rot. Einmal verschreibt sie sich, schreibt statt »Mä« »Fr«, killt ein Stückchen Mann in der eigenen Statistik, in der nicht nur mehr Frauen arbeitslos sind, in der auch enthüllt wird, daß sie diesen Zustand auch noch schwerer hinnehmen und die schlechteren Aussichten haben.

Frauen vermissen ihre KollegInnen, den gewohnten Kontakt mehr als Männer, sagt die Statistik. An zweiter Stelle bei den negativen Folgen der Arbeitslosigkeit steht die Unsicherheit, ob man je wieder Arbeit findet, an dritter nervt das viele Zuhausesein. 34 Prozent der Befragten freuen sich, endlich Zeit zu haben für Sachen, die Spaß machen. Gleichzeitig kommen sie sich überflüssig vor. Zwischen Mai und Dezember '90 steigen die finanziellen Probleme, aber sinkt das Leiden am »nicht gebraucht werden« — »ein positives Zeichen der Verarbeitung?« (Hahn). Bis jetzt, stellt die Soziologin erleichtert fest, unterscheide sich der Mittelwert der Lebenszufriedenheit bei den Arbeitslosen nicht dramatisch vom Mittelwert der Ex-DDRler insgesamt, (Kunststück, bei dieser Quote!), was den vorsichtigen Schluß zulasse, daß die Verarbeitung normal verlaufe.

Allerdings könnte die verschärfte Entwicklung in Zukunft zu einer Polarisierung, wenn nicht zu einer politischen Polarisierung — »links- und rechtsextreme Tendenzen«, weiß Dr. Hahn — führen. Was soll ich nur machen, fragt eine ältere Frau. Komme aus dem Gesundheitswesen. Hab, als ich fünfzehn war, als Lehrschwester angefangen. War Stationsschwester, hab aber einen Fehler gemacht. Hab zuletzt als Stationshilfe gearbeitet. Jetzt glauben alle, ich wäre runtergestuft worden, hätte nicht gut gearbeitet. Soll ich die Arbeit jetzt annehmen, da gäbe es eine Stelle in der Fabrik, putzen. Werden Sie doch Altenpflegerin, sagt die Frau, die weiß, wie man obdachlos wird. Am 15. März ist dazu eine Veranstaltung, ich kann Ihnen die Adresse geben. Der Mann dreht sich um: »Die warten vielleicht gerade auf Sie«, sagt er ganz ohne Ironie. Er selber will wissen: Brauchen die Lehrer bei den Umschulungsmaßnahmen? Auch Mathematik? Die Frau hat auch für ihn einen Tip: Gehen Sie mal gleich morgen ins Planetarium. Da sitzen die ganzen Qualifzierungsträger im Halbkreis und warten auf Arbeitslose. Da hab ich keine Zeit, brummt der Mann, ich lauf doch von einer Behörde zur andern... Plötzlich ist die Veranstaltung zu Ende. Auf Kommando packen alle ihre Taschen und Mäntel. »Schön war's«, sagt die Frau aus der Ecke und meint es wirklich so. Dorothee Hackenberg