KOMMENTARE
: Kurs halten — weiterlügen

■ Die menschlichen Kosten der Einheit und ihre politischen Folgen

Eine Prognose aus dem Jahr der Einheit zumindest ist dem Bundeskanzler geglückt. Jetzt — so hatte er den DDR-BürgerInnen zur Währungsunion versprochen, gelte es, sich auf „neue, ungewohnte Lebensumstände“ einzustellen. — Um die zunehmend ungewohnteren Lebensumstände der neuen Bundesbürger zu bewältigen, wurde jetzt von der Bundesregierung das „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost“ ins Leben gerufen. Der bieder-pompöse, leicht behäbige Optimismus, den der Titel verströmt, läßt fast die panikartigen Züge vergessen, die das Regieren im vereinten Deutschland angenommen hat. Der Name des Projekts soll ein zusammenhangloses Katastrophenhilfspaket aus absehbar unzureichenden Finanzspritzen und Einzelmaßnahmen zum großen Solidarkonzept mystifizieren — mehr nicht. Dürftiger Inhalt und vollmundige Präsentation sind symptomatisch dafür, daß die Bundesregierung auch weiterhin auf Suggestion als Grundansatz ihrer Ost-Politik setzt.

Dabei hätte sich aus den konsterniert klingenden Rechtfertigungsversuchen der letzten Wochen doch wohlwollend schließen lassen, daß nicht nur die ehemaligen DDR-BürgerInnen, sondern auch die agierenden Politiker zu Opfern ihrer eigenen Illusionen wurden. Deren Bann wird jetzt vom Notstand in den neuen Ländern gebrochen. Die Steuererhöhung, als erste Konsequenz einer widerwilligen Annäherung an die ostdeutschen Realitäten, deren ganzer Zynismus sich erst im Kontrast zu den bodenlosen Versprechungen des Einheitsjahrs voll entfaltet, hätte dann eigentlich schon ausreichen müssen, um die verantwortlichen Strategen zum Abtreten zu zwingen. Daß der Rücktritt der Bundesregierung von der Opposition nicht einmal ernsthaft gefordert wurde, ist fast noch aufschlußreicher als sein Ausbleiben. Es scheint, als könne diese Regierung noch immer von der Aura eines Projektes zehren, dessen ökonomisch verheerende Folgen offenliegen und dessen politische wie sozialpsychologische Verwüstungen sich zumindest erahnen lassen. Noch überdauert die immunisierende Wirkung der historischen Stunden die bitteren Folgen.

Von den Sozialdemokraten jedenfalls hat der Kanzler vorerst nichts zu befürchten. Die Opposition steht, ebenso wie das Parlament, weiterhin unter dem Schock ihrer Marginalisierung im Einheitsjahr. Daß die SPD jetzt gern, wenn auch ein wenig zaghaft an die tristeren Vorwahlprognosen ihres ungeliebten Kanzlerkandidaten anknüpfen will, ist verständlich und kaum mehr als ein ironisches Apercu. Eine Spur mehr an Wahrheit steckt da schon in der offensichtlichen Handlungsunfähigkeit der Sozialdemokraten. Die hat etwas Ehrliches. Fast erscheint sie als Eingeständnis, wie sehr die Opposition selbst in das gescheiterte Projekt verstrickt ist. Demgegenüber ist das genüßliche Herumhacken auf Kohls Steuerlüge nur der Reflex ratloser Politprofis, die bei allen Scharmützeln doch insgeheim wissen, daß auch sie die Entwicklung nicht mehr steuern könnten.

Je schneller sich die Problemspirale im Osten dreht, je unangemessener sich das Kurieren hier und da gegenüber dem grand design der Katastrophe erweist, umso alternativloser bleibt die Bundesregierung aufs Feld der Propaganda verwiesen. Doch auch die erscheint immer deutlicher als bloße Durchhaltevariante auf dem Weg zum überfälligen Offenbarungseid. Aufklärung, die Eröffnungsbilanz des mißglückten Experiments oder — in Kohls Worten: die geistig-moralische Wende '91 — sind nicht in Sicht. Die Öffentlichkeit darf schon dankbar sein, wenn die Versprechungen, die den Opfern der Einheit auf Jahre in den Ohren klingen, über Nacht zu Gunsten moderaterer Prognosen aus dem Verkehr gezogen werden. Doch — das ahnen auch die Bonner — der verspätete Apell an die Geduld der depravierten Neu-Bundesbürger verfängt nicht. Aus dem Mund derer, die im Einheitsjahr die nach-revolutionäre Ungeduld anheizten, um die Alternativlosigkeit ihrer Strategie zu sichern, verliert dieser Appell jegliche Überzeugungskraft. So bleibt der Bundesregierung im Grunde nichts als Kurs halten — weiterlügen.

Die menschlichen Kosten der Einheit werden unterdessen in die Höhe getrieben, ohne daß man ihren Opfern auch nur in Ansätzen das Maß an Aufrichtigkeit gewährt, das ihren Schockerfahrungen entspräche. Zerstört werden die Lebensperspektiven von Hunderttausenden. Der Zusammenhang von großer Politik mit dem Schicksal der Individuen wird derzeit in den neuen Bundesländern erlitten wie seit den späten 20er Jahren und ihren Folgen nicht mehr. Genährt wird jetzt ein gigantisches Ressentiment, das zu suggerieren die real-sozialistische Propaganda sich vierzig Jahre vergeblich abmühte. Die Brutalität des westlichen Gesellschaftssystems wird zur erduldeten Gewißheit. In dem Maße, in dem sich die Ost-Realität den PDS- Parolen angleicht und die „Panikmacher“ von gestern heute als moderatere Illusionisten erscheinen, zerbröckelt die ohnehin dünne Legitimationsdecke des neuen politischen Systems. Die Wahrnehmung der parlamentarischen Demokratie als betrügerische Veranstaltung, deren gespreizte Vorstellungen nur den Niedergang begleiten, liegt als demagogische Parole schon parat.

Im Mißverhältnis zwischen derartigen Perspektiven und dem verschleiernd-geschäftigen Agieren der Bundesregierung offenbart sich die ganze Verantwortungslosigkeit der Bonner Politik. Die Hypothek jedenfalls, die sie mit dem Projekt „Deutsche Einheit“ aufgenommen hat, wird sie mit der Fiktion eines „Gemeinschaftswerks Aufbau-Ost“ nicht abtragen. Matthias Geis