„Laßt uns die Regierung in die Moldau werfen“

Mit Massendemonstrationen in verschiedenen Städten fordern Mährener ein Ende der jahrzehntelangen finanziellen Benachteiligung/ Neben der slowakischen und der tschechischen Republik wollen sie eine mährische Republik  ■ Aus Prag Sabine Herre

„Laßt uns nach Prag marschieren und dort die gesamte inkompetente Regierung aus Kommunisten und Stasi-Leuten in die Moldau werfen!“ Das war die wohl radikalste Aufforderung, die am vergangenen Wochenende rund 50.000 Teilnehmer einer Demonstration in Brno zu hören bekamen. Doch nicht nur in der Hauptstadt Mährens, jenem zwischen Böhmen und der Slowakei liegendem Landesteil der CSFR, sondern auch in Ostrava und Olomouc, zwei Städten im Norden Mährens, gingen Tausende auf die Straße. Ihre Forderungen: Die jahrzehntelange finanzielle Benachteiligung Mährens im tschechischen Staatshaushalt muß ein Ende haben, die Regierung des tschechischen Ministerpräsidenten Pithart solle zurücktreten, die Beratungen über die neue Verfassung der Tschechoslowakei beschleunigt werden; neben der slowakischen und der tschechischen soll eine mährische Republik entstehen. Im Unterschied zu den Slowaken bilden die Mähren — zumindest nach Ansicht der Mehrheit der Ethnologen — keine eigene Nation. Sie gelten vielmehr als „Volksgruppe“ mit ihren Bräuchen und Dialekten. Während Slowakisch eine selbständige slawische Sprache ist, sprechen die Mähren tschechisch.

Und auch in der Geschichte der beiden Landesteile gibt es entscheidende Unterschiede. Anders als Mähren, das seit der Mitte des elften Jahrhunderts zu den „Ländern der böhmischen Krone“ zählte, wurde die Slowakei nach dem Zerfall des Großmährischen Reiches (895) Teil Ungarns. Erst tausend Jahre später konnte mit der Gründung der „Ersten Tschechoslowakischen Republik“ erneut ein gemeinsamer Staat der Böhmen, Mähren und Slowaken geschaffen werden. Obwohl Staatspräsident Thomas G. Masalyk mit der für die Slowaken nicht zu akzeptierenden Vorstellung einer „Tschechoslowakischen Nation“ die Grundlage für die nationalen Spannungen bis heute geschaffen hatte, gab es in der Zwischenzeit doch auch vier sich weitgehend selbst verwaltende Länder. Neben der heute zur Sowjetunion gehörenden Karpatho- Ukraine waren dies die Slowakei, Böhmen und — Mähren.

Da die Tschechoslowakei Vaclav Havels sich in den Traditionen der Masarykschen Republik sieht, will sie auch in der Frage der Eigenständigkeit der Länder hinter dieser nicht zurückstehen und entwickelte Lösungsmöglichkeiten: Die Tschechische Republik wird — etwa nach dem Vorbild Italiens — in sich selbst verwaltende Regionen gegliedert. Dies hätte den Vorteil, daß keine neue mährische Zentralregierung, kein neuer Beamtenapparat geschaffen werden müßte, politische Entscheidungen wären transparenter und von den Bürgern leichter zu kontrollieren. Eine zweite Variante sieht dagegen vor, die CR in zwei selbständige Bundesländer zu teilen. Damit gäbe es aber allein in dieser Republik der CSFR drei Regierungen: eine böhmische, eine mährische und eine gesamttschechische. Die dritte Variante schließlich ist die weitestgehende, sie stimmt mit den bei den Demonstrationen erhobenen Forderungen überein: Die Föderation wird sich nicht nur aus zwei, sondern aus drei Republiken zusammensetzen. Obwohl selbst Ministerpäsident Peter Pithart diesem Vorschlag aufgeschlossen gegenübersteht, scheint er kaum realisierbar. Die slowakische Regierung wird sich vehement dagegen wehren, daß sie durch die Bildung zweier tschechischer Republiken in der Föderation majorisiert werden könnte. Daher haben sich sowohl Präsident Havel als auch die Vertreter des Bürgerforums und ihrer slowakischen Schwesterorganisation „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ am vergangenen Montag deutlich für eine „Zweierföderation“ ausgesprochen. Für die Ausarbeitung des verfassungsrechtlichen Status Mährens hat das tschechische Parlament eine eigene Kommission eingesetzt. Geplant ist, daß über die zukünftige Form der Selbstverwaltung ein Referendum entscheidet.

Zurückgewiesen hat Pithart inzwischen den Vorwurf der finanziellen Benachteiligung Mährens. Zwar räumte er ein, daß die jährlichen Staatsausgaben sich in Prag auf 12.500, in Böhmen auf 6.500, in Mähren aber nur auf 5.900 Kronen pro Einwohner belaufen. Zwischen Mikulov und Ostrava könnten jedoch 36 Prozent des Bruttosozialproduktes ausgegeben werden, dies entspreche genau dem hier erwirtschafteten Bruttosozialprodukt-Anteil.

Angesichts des politischen und finanziellen Entgegenkommens der tschechischen Regierung werden die Fragen nach den tatsächlichen Ursachen der immer radikaler werdenden Töne der Demonstranten immer dringender. Die häufigste Antwort: Seitdem am 1.1.1991 der Startschuß zu den ökonomischen Reformen erfolgte, verschlechtern sich die Lebensbedingungen nahezu aller Tschechen und Slowaken. Die Lebenshaltungskosten stiegen allein im Januar um 40 Prozent, angesichts der restriktiven Finanzpolitik der Föderalregierung stehen viele Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe heute vor dem finanziellen Ruin. Besonders betroffen ist in Mähren das Schwarzkohlerevier um Ostrava, nach Schätzungen soll es dort Mitte des Jahres bis zu 60.000 Arbeitslose, 20.000 mehr als in der gesamten CR derzeit, geben.

Die Demonstranten hat kaum ein „mährisches Nationalgefühl“ auf die Straßen geführt. Deutlich zu spüren sind jedoch Mißtrauen, Wut und Enttäuschung. Die Hoffnungen der „samtenen Revolution“ des Herbstes 1989 wurden nicht erfüllt. Das sich immer weiter ausbreitende Gefühl, „gegen die Prager Zentrale nichts in der Hand zu haben“, wird geschickt von einigen Politikern der „Bewegung für die selbstverwaltete Demokratie“ ausgenützt. Im Prager Parlament wegen ihres mährischen Nationalismus häufig verlacht, sieht die zweitstärkste politische Gruppierung Mährens in der wachsenden Unzufriedenheit nun ihre Chance. Ihre Antworten auf die komplexen ökonomischen Fragen sind einfach. Ihr Sündenbock heißt „Prag“, ihre Lösung „Republik Mähren“.

Nationale Stimmungen und ökonomische Probleme könnten jedoch auch von anderen politischen Gruppierungen des Landes ausgenützt werden. Neben den rechtsradikalen „Republikanern“ wartet die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens auf ihre Chance. Bereits bei den Kommunalwahlen im Herbst 1990 konnte sie in Havirov, einer traditionsreichen und vom realsozialistischen System immer privilegierten Bergbaustadt, mit 18 Prozent der Stimmen zur stärksten Partei werden. Die vergangenen Monate haben gezeigt, daß die KP der Slowakei nicht davor zurückschreckte, gemeinsam mit nationalistischen Gruppen das staatliche Wirtschaftsprogramm zu kritisieren. Vorläufig jedoch beschränken sich die mährischen Genossen darauf, einmal in der Woche eine „Stimmungsbericht“ nach Prag zu schicken.