: Pikanter Leseabend
■ Richard von Weizsäcker lud zur Lesung ins Bellevue
Mitte. Es war ein Abend für Gourmets. Vom Besten wurde dargereicht, aber nur häppchenweise. Egal ob es Fasanenragout oder Lachsnockerln waren, Delikatessen aus Literatur oder Kultur oder Schmankerln aus Politik und Kritik. Ein wenig von Weizsäcker da, eine Prise (oder war es Prosa?) Günther Grass hier, ein Löffelchen Günther de Bruyn dort. Lothar de Maizière, die Cello und »Cherny« spielende Blockflöte hüben und Jens Reich beim Mann mit den Flugentenspießchen drüben. Alles in allem 250mal die reinste Creme.
Richard v. Weizsäcker hat wieder einmal bewiesen, daß er — schon von Amts wegen — guten Geschmack besitzt. Zur Ost-West- Lesung mit den Schriftstellern Günther Grass und Günther de Bruyn bat er ins Schloß Bellevue, damit wir unserer Freude und Dankbarkeit über die Wiedervereinigung Ausdruck geben könnten. Und das, zumal er selbst gerade aus dem geteilten Korea zurückkäme, berichtete er in seiner Begrüßungsrede.
Dankbar las also der im Osten lebende Günther de Bruyn dann vor, wie gern er in seiner Kindheit ins Kino ging. Die zwei recht braven Texte hatte de Bruyn aus seiner noch nicht vollendeten Autobiographie Skeptische Zwischenbilanz mitgebracht. Vielleicht kamen die Zuhörer damit auf den Geschmack.
Weniger dankbar schon der im Westen lebende Verfassungspatriot Grass, der nach einem Kapitel aus seinem Butt erst das Hauptgericht folgen ließ. In einem aktuellen Essay, Das geschändete Bild, bezichtigte Grass die Bundesregierung einer »Ludenmoral«. Er kritisierte die deutschen Waffenexporte, die Unterstützung des Golfkriegs durch die Regierung und den Wahlbetrug an den Bürgern der ehemaligen DDR. Anlaß seines Zorns war eine Anzeige der Bundeswehr, wobei diese sich an Picassos Guernica vergriffen hat. Wie die Allianz Lebensversicherung hätte sich die »starke Truppe« mit diesem Werk in einer Werbeanzeige darstellen wollen. Grass fordert vom Bundespräsidenten, sich dafür einzusetzen, daß sich der Bundesverteidigungsminister bei den Bürgern der spanischen Stadt Guernica entschuldigt. Der Bundespräsident wollte sich anschließend nicht mehr dazu äußern. Seine Gäste jedoch bat er schulmeisterlich, sich »in Gesprächen mit dem soeben Gehörten zu beschäftigen«. Gunnar Tausch
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