Der Zufall ist dienlich

Interview mit Hanns Zischler über die Dreharbeiten mit Godard  ■ Von Thierry Chervel

Hanns Zischler ist Übersetzer, Essayist, Autor von Hörspielen und Schauspieler. In Wenders' „Im Lauf der Zeit“ spielt er den Kamikaze-Robert, in Godards „Solitudes“ Graf Zelten. Das Interview wurde im Bahnvorsteher-Raum des Bahnhofs Stralsund-Rügendamm geführt.

taz: Die Spielorte erinnern mich ein bißchen an Wenders' „Im Lauf der Zeit“: Bahnhöfe, Straßen, Städte, ein im Stich gelassenes, trauriges Deutschland. Auch im „Lauf der Zeit“ war das sozusagen dokumentarische Hereinnehmen der Realität in den Film wichtig. Vielleicht können Sie als einer, der in beiden Filmen spielt, gerade angesichts dieser Ähnlichkeiten etwas über die Unterschiede zwischen Wenders' und Godards Arbeitsweisen sagen.

Hanns Zischler: Godard arbeitet mit einem Story board. Das heißt, er zeichnet jede Einstellung so auf, wie sie dann sein wird. Das gilt allerdings nur für die Figuren, der Hintergrund bleibt offen, weil er im Prinzip bekannt ist — der Ort, der Zug usw. Godards Vorausschau auf das Bild — das, was er den „unsichtbaren Film“ nennt, was er vor den Dreharbeiten sieht — ist meines Erachtens etwas ganz anderes als bei Wenders. Wenders hat bei Im Lauf der Zeit, wenn ich mich richtig erinnere, ohne story board gearbeitet. Er hat erst am Ort kadriert, und zwar nach dem maximalen Bildwert. Er geht da eigentlich fotografisch vor, auch mit einer fotografischen Ästhetik. Für Im Lauf der Zeit denke ich da an Vorbilder wie Dorothea Langes Tennessee Valley: die maximale Präsenz, die die Schwarzweiß-Fotografie bietet an den Orten zu entdecken und ins Bild zu setzen.

Genau in diesem ästhetischen Vorrücken auf die Objekte unterscheidet sich Wenders von Godard. Godard ist an dem fotografisch- ästhetischen Aufbau der Bilder in diesem Sinne nicht interessiert. Er ist eher in einer ganz emphatischen Weise desinteressiert daran und wählt Bildausschnitte, die sich nicht in ein klassisches Bild fügen — Anschnitte, scheinbar Willkürliches, Überstehendes, verschärftes Zugehen auf Einzelheiten.

Godard hat also ein anderes Verhältnis zum Ort?

Zum Ort und zu dem, was er an dem Ort will. Bei ihm gibt es zum Beispiel das, was ich die „Juxtaposition“ nennen würde. Also etwa heute auf dem Bahnhof von Stralsund: von Papen in Stresemann und Zylinder vor einem Zug der Reichsbahn der DDR. Das sind mindestens zwei Schichten von Aussagen, die gegeneinander streben. Während Wenders den Ort selber „ins Bild hebt“ und der Darsteller dann darinnen agiert.

Kann es sein, daß Godards Bilder zwar weniger „spektukulär“ oder „gewählt“ sind, daß es darin aber andererseits einen größeren Anteil des Zufälligen gibt?

Das Zufällige ist ja eigentlich die Nemesis des Films. Man kann versuchen, den Zufall mit extremen finanziellen und organisatorischen Mitteln auszuschalten und so tun, als würde man sozusagen open air im Studio drehen. Oder man sagt: Das Zufällige ist das Gegebene, und das Gegebene ist genau das, was ich habe, und darin werde ich machen, was ich kann. Das heißt, daß die beiläufigen Störungen in Kauf genommen werden — und nicht nur in Kauf genommen werden, sondern geradezu dazu beitragen, daß das Bild als „Chronometer“ eines ganz bestimmten Augenblicks erscheint. Ich erinnere mich an eine Szene in Potsdam, wo wir in der Fußgängerzone gedreht haben. Da ging es darum zu vermeiden, daß die Leute ins Bild gucken. Godard hat die Kamera also ein bißchen versteckt, und es ging gut. Und dann war abgestellt. Genau in dem Augenblick kamen drei mongolisch aussehende russische Soldaten in schweren Filzmänteln vorbei. Da war die Kamera eine Sekunde zu früh ausgestellt worden und ein Ausdruck leichten Bedauerns bei Godard. In anderen Fällen läuft sie vielleicht noch diese Sekunde, und dann sind die drin.

Das sind die Momente, die ich bei Godard liebe. Ich erinnere mich an einen dramatischen Wolkenhimmel — in „Passion“, glaube ich —, wo für eine Sekunde die Sonne hervorbricht und übers Gesicht einer Schauspielerin fährt, ein Moment de grace. Bei Wenders' scharfer Kalkulation scheint mir so etwas ausgeschlossen.

Da wär ich vorsichtig. Wenders würde so einen Augenblick auch nehmen, und er hat sie auch. Gerade bei Naturerscheinungen wie Licht und Wolkenbildung zögert, glaube ich, selten jemand. Selbst wenn der Kameramann sagt, daß das jetzt drei Blenden Differenz sind. Nur die grundsätzliche Haltung dazu ist vielleicht eine andere. Godard ist vielleicht auch egal, mal bei miesem Licht zu drehen. Das ist dann einfach das miese Licht. Die Frage ist: Was passiert und was lasse ich passieren. Dies auch im wörtlichen Sinn: Was lasse ich vorübergehen? Was passiert, ist das, was die Regie möchte. Und was ich passieren lasse, ist das, was der Regie nicht mehr zugänglich ist, was ihr in der Montage aber wieder zugänglich wird, in einer Weise, die vielleicht im Moment des Drehens noch nicht erkennbar ist. Die Montage kann den Zufall rehabilitieren. Er ist einerseits ein Risiko und andererseits genau die Kunst.

Welche Rolle spielen Sie in „Solitudes“?

Ich zögere, das eine Rolle zu nennen. Es gibt im herkömmlichen Sinn keine richtige Spielhandlung. Einerseits bewege ich mich als Graf Zelten durch den Film — Graf Zelten ist der Name einer Romanfigur, die bei Giraudoux eine Art Osmose bildet zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, jemand, der versucht, die beiden Kulturen in sich zum Einklang zu bringen, was zur Zeit der Entstehung des Romans ziemlich riskant war und was Giraudoux meines Erachtens auch mit ziemlicher Meisterschaft gelungen ist. Godard möchte daran erinnern, daß es Einzelgänger gibt, die zwischen diesen Kulturen wandern.

Ich kann jetzt alerdings nicht beurteilen, wie Godard diese individuelle Brückenfunktion in der Montage des Films bewerten wird. Es könnte sein, daß Giraudoux' Projekt durch Schriften, historische Filmausschnitte usw. konterkariert oder gar verworfen wird.

Gibt es einen Anteil Ihrer selbst an der Rolle?

Im Spiel selbst ist dieser Anteil sicher nicht sehr stark von mir mitbestimmt. Da versuche ich — soweit ich kann —, seine Vorstellungen zu erüllen. Einen Anteil von mir gibt es eher dadurch, daß ich ihm deutsche Literatur und Literatur zu den Themen, die ihn interessieren, Namen und Orte genannt habe.

Das liegt daran, daß Sie auch organisatorisch, als Übersetzer, Mittler zwischen den Ländern, am Projekt beteiligt sind.

Es ist schwer zu trennen. Es wurde zum Beipiel viel in meiner Wohnung, an meinem Schreibtisch, meinem Klavier usw. gedreht. Das ist ja dann nicht „Graf Zelten irgendwo“, das bin ich. Insofern verschwindet der Zelten wieder hinter mir. Godard hat mich zum Beipiel gefragt, ob ich nicht etwas von Beethoven spielen könne. Ich habe gezögert. Auf meinem Klavier lagen die Geistlichen Lieder von Bach. Die spiele ich gerade und also auch im Film. So hat es sich gefügt. Der Zufall ist dienlich. Oder: Was kann ich tun, um mir den Zufall zunutze zu machen, ohne ihn zu überlisten?