Eine halbe Million gegen Gorbatschow

Moskauer Großdemo für Boris Jelzin/ Gorbatschow soll endlich zurücktreten/ Demonstranten gegen die strikten Preissteigerungen und das Referendum über den Fortbestand der Sowjetunion  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

So etwas hat das moderne Moskau noch nicht gesehen. Mit Kind und Kegel, Schoßhündchen und sogar auf Krücken blockierten Bürger am gestrigen Sonntag die Innenstadt, um ihrer Solidarität mit dem Präsidenten des russischen Obersten Sowjets, Boris Jelzin, Ausdruck zu verleihen und gegen die Fragestellung bei der Abstimmung über den Fortbestand der Sowjetunion.

Die Menge, die sich um 12 Uhr mittags in strahlender Sonne auf dem Mangeplatz versammelt hatte, wird auf etwa 300.000 bis zu einer halben Million Personen geschätzt. Der sechsspurige Kalinin-Prospekt, die größte Zufahrtstraße zum Kreml, war schon vormittags um elf von Menschen verstopft.

Jelzin, der erste Mann Rußlands, war in letzter Zeit von der KPdSU- Fraktion im Russischen Obersten Sowjet heftig angegriffen worden, vor allem wegen seines Eintretens gegen das blutige Vorgehen der UdSSR-Armee in den baltischen Staaten und wegen seiner im Fernsehen erhobenen Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten der Sowjetunion. Das Meeting, zu dem die Bewegung „Demokratisches Rußland“ aufgerufen hatte, ein Zusammenschluß zahlreicher Verbände und der Parteien, von Sozial- bis Christdemokraten, unterstützte dieses Verlangen. „Gorbatschow zurücktreten!“ skandierte der Platz minutenlang.

Der Moskauer Oberbürgermeister Gawrijl Popow kennzeichnete in einer Rede die politische Lage im Monat März als „gefährlichen Moment“. Drei Ereignisse mit ungewissem Ausgang verschärften die heute ohnehin bestehende Krise: die Ende des Monats zu erwartende Tagung des „Kongresses der Volksdeputierten Rußlands“ — einberufen auf Antrag der Abgeordneten, welche Jelzin das Mißtrauen aussprechen wollen — , die strikten, von der Zentralregierung verordneten Preissteigerungen und schließlich das Referendum über den Fortbestand der Sowjetunion.

Die gewundene Frage, über die die Sowjetbürger am nächsten Sonntag entscheiden sollen, läßt tatsächlich keine Alternative zu. Wörtlich lautet sie: „Halten Sie die Erhaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerter Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken, in denen die Rechte und Freiheiten der Menschen aller Nationalitäten in vollem Umfang garantiert sein werden, für unumgänglich?“ Unmut entzündete sich vor allem an dem Beiwort „sozialistisch“. Wer schon bei der Volksbefragung den Umstand nicht berücksichtigt, daß sich heute die meisten, bisher zur Sowjetunion gehörenden Republiken selbst offiziell nicht mehr als sozialistisch bezeichnen, dem ist es wohl auch mit deren Souveränität nicht allzu ernst, argumentieren die Anhänger der Bewegung „Demokratisches Rußland“.

Einen klassischen Zirkelschluß lieferte zudem der Vorsitzende der Referendumskomission im Obersten Sowjet der UdSSR. Auf die Frage, was geschähe, wenn sich keine Mehrheit für eine Erneuerung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken fände, antwortete er sinngemäß, daß dann eben alles beim alten bliebe.

„Wenn wir gegen den Gorbatschowschen Unionsvertrag mit Nein stimmen, heißt das nicht, daß wir gegen einen sinnvollen Staatenverband sind, sondern: daß das Volk sich heutzutage nicht mehr für dumm verkaufen läßt“, rief der Vorsitzende der Demokratischen Partei Rußlands, Nikolaj Trawkin. Die Bewegung Demokratisches Rußland empfiehlt, beim Referendum gegen die Hauptfrage zu stimmen.

Mit Ja soll hingegen auf eine zweite Frage geantwortet werden, deren Aufnahme auf die Stimmzettel die gegenwärtige russische Regierung gegen das UdSSR-Zentrum durchsetzen will: „Soll in Rußland das Amt eines direkt vom Volk gewählten Präsidenten eingeführt werden?“ Für Boris Jelzin, dessen Anhängerschaft in der Bevölkerung Meinungsumfragen zufolge viel höher ist als im Kongreß der Volksdeputierten Rußland“ ist dies die einzige Chance, seine Macht dauerhaft abzusichern und eine handlungsfähige Regierung zu bilden.