Wendehälse in den Klassenzimmern

■ Verlust an Autorität macht Lehrern zu schaffen/ SchülerInnen spüren die Unsicherheiten heraus

Frankfurt/Berlin. Mit der Wende in der DDR wurde auch im Unterricht des Jenaer Geschichtslehrers Rüdiger Schütz vieles anders. Quasi über Nacht rückten Themen wie der Hitler-Stalin-Pakt, die sowjetischen Gulag-Straflager und der Mauerbau plötzlich auf den Lehrplan. „Wir konnten endlich über Dinge reden, die jahrelang in der ehemaligen DDR tabuisiert waren“, berichtet der Lehrer an der Polytechnischen Oberschule Jena heute rückblickend.

Doch die Erleichterung über die neue Lehrfreiheit in den ostdeutschen Bundesländern hat für viele ostdeutsche Erzieher, Lehrer und Hochschulprofessoren einen bitteren Beigeschmack. Viele, so berichteten Pädagogen am Rande eines Kongresses der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Samstag in Frankfurt, gerieten in schwere Autoritätskrisen im Verhältnis zu ihren SchülerInnen.

Besonders die Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer büßten an Glaubwürdigkeit ein, wenn sie nun auf einmal „weiß für schwarz“ erklärten, beschreibt ein anderes Kollegiumsmitglied die Lage.

Viele Lehrer für Staatsbürgerkunde haben nach Darstellung des ostdeutschen Lehrer-Gewerkschafters den Konflikt bis heute nicht verkraftet. Auf Druck der Eltern hätten sich eine ganze Reihe von „Hardlinern“ aus dem Sozialkundeunterricht zurückgezogen, zumal einige — außer ein paar Seminaren auf der Parteischule — überhaupt keine pädagogische Ausbildung besäßen.

Rüdiger Schütz hat seine eigene Bewältigungsstrategie entwickelt. Er sucht mit seinen 15 bis 16 Jahre alten SchülerInnen das offene Gespräch über seine zwiespältige Berufsrolle. „Ich sag denen einfach offen, wie das früher war, unter welchem Druck wir damals standen.“ Der Erfolg gibt ihm recht. „Schüler sind brutale Urteiler. Aber sie sind bereit, Lehrer zu akzeptieren, die aus ihren Schwiergkeiten keinen Hehl machen und auch innerlich zu einer Neuorientierung bereit sind“, berichtet Schütz. „Wendehälse“, die ihre Mäntelchen nach dem Wind hängten, würden jedoch rasch durchschaut. Schütz: „Schüler haben dafür ein unheimlich feines Gespür.“

Doch gerade an der Aufarbeitung der eigenen Geschichte mangelt es nach Ansicht vieler Lehrer. Den „Blick zurück“ verhinderten die sich jagenden Hiobsbotschaften über die Zukunft des Bildungssystem, der drohende Personalabbau und die damit verbundenen Existenzängste. „Für sich Abrechnung zu halten, ist zur Zeit nicht drin“, meint auch Schütz. Er hoffe aber, daß dafür später noch Zeit ist. „Da müssen wir durch, da führt kein Weg dran vorbei“, weiß der Geschichtslehrer.

Auch in den Kindergärten hat sich seit der Wende einiges geändert. Während früher schon die Kleinen mit dem Erziehungsauftrag traktiert wurden, daß sie Titel und Funktionen des Staatsratsvorsitzenden flüssig aufsagen konnten, gebe es derzeit mit viel Eigeninitiative der Erzieherinnen neuen pädagogischen Freiraum, berichtet die GEW-Delegierte und Kindergartenpädagogin aus Finsterwalde, Barbara Priefer. Angesichts der Unsicherheit über Schließungen der Kindergärten und Entlassungen steht für viele der Kindergärtnerinnen nun aber vor allem nackte Existenzangst im Vordergrund, sie fürchten um ihre einstmals angesehene gesellschaftliche Position. Es gebe schon erste Anzeichen, daß gutausgebildete Erzieherinnen zugunsten billigerer, ungeschulter Kräfte auf die Straße gesetzt werden, meint die 42jährige mit ihren 25 Berufsjahren. Ihren langgehegten „pädagogischen Traum“ von künstlerischer Arbeit mit den Kindern und Entdeckungsspielraum auf eigene Faust will sie trotz der ungewissen Zukunft noch nicht aufstecken. Susanne Krause und

Klaus Tscharnke/dpa