Noblesse in Schnallenschuhen

■ Es geht auch anders: Eine Werkstattaufführung von „Arianna in Creta“

Gäbe es eine Steigerungsform des Wortes „tot“, so wäre noch vor einigen Jahren dem Ruf „Die Oper ist tot!“ der Nachruf „Die Barockoper ist toter!“ gefolgt. Ohne genauer zu wissen, was man zu Grabe trägt, galt die barocke Opera seria als starres Formgerüst und nicht „zeitgemäß“, weil dem heutigen Rezeptionsverhalten und Lebensgefühl schwerlich anzunähern. Antike Mythen, höfische Intrigen und deren tapfere Helden, die im ständig gleichen Strickmuster von Rezitativ und Arie einst den Lauf der Bühnenwelt bewegten, sind uns heute fremd. Aber: Wo liegt eigentlich das Problem? Die Stoffe der Barockopern sind alt, altertümlich. Zur Zeit ihrer Vertonungen waren sie angefüllt mit Anspielungen auf die Gesellschaft und schon dadurch brennend aktuell. Und ohnehin hatten Mythen und Standesdramen einen Stellenwert, der zum täglichen Leben gehörte. Die Erwartung, heute vor allem Gemeinsamkeiten mit dem Erlebnishorizont des damaligen Publikums finden zu wollen, ist die beste Garantie dafür, daß man sich langweilt.

Inzwischen ist die Oper wieder lebendig. Und die Barockoper? Sie schlummert einen Dornröschenschlaf in wissenschaftlichen Archiven, ab und zu (un-)sanft geweckt vom modernen Regietheater oder anderen Wiederbelebungsversuchen.

Karlsruhe ist für beides ein Ort. Seit 1985 finden hier Händel-Festspiele statt. Daß der Komponist, der durch unzählige Messias-, Feuerwerks- und Wassermusik-Reproduktionen einen Grad von beachtlicher (für seine Musik bisweilen schädliche) Popularität erreicht hat, mit seinen Opern beim breiten Publikum nicht gut ankommt, ist eine Herausforderung für Regisseure. Und so gibt es im Badischen Staatstheater alljährlich eine neue Inszenierung der alten Stoffe: Im Neon-Zeitalter müssen sich auch Händels Protagonisten mit möglichst lässigen und ständigen Bewegungen nahtlos ins Bühnen-High-Tech des ausgehenden 20. Jahrhunderts fügen. Angesichts der Tatsache, daß während der Show die „Deutschen Händel-Solisten“ blanke Därme streichen und ins Naturhorn stoßen, tut sich da oft eine groteske Kluft zwischen Bühne und Orchestergraben auf.

Scheinbar unvereinbar sind auch die Perspektiven von musik- und theaterwissenschaftlicher Forschung einerseits und denen der praktischen Realisierung andererseits. Auf den Karlsruher Symposien, die im Rahmen der „Internationalen Händel-Akademie“ parallel zu den Festspielen stattfinden, klingt den dort vertretenen Wissenschaftlern die Kritik der Praktiker nach fünf Jahren der Annäherungsversuche schon wie ein Endlosband in den Ohren: Höchst ehrenwerte Detailforschung in Sachen Barockoper sei nun einmal nicht „bühnenwirksam“ umzusetzen.

In diesem Jahr wollten die Wissenschaftler es wissen. Eine musikwissenschaftlich-theaterpraktische Werkstatt wurde eingerichtet. Während Heinz Balthes' Inszenierung von Händels Arianna in Creta im Badischen Staatstheater vor lauter Angst, die Zuschauer mit dem gängigen Opernzeitmaß von guten drei Stunden zu langweilen, erstickend üppig über die Bühne tobt, wird in der Musikhochschule der zweite Akt derselben Oper behutsam von jeglicher Patina befreit.

In fünf Tagen wachsen einige Szenen des zweiten Aktes zu filigranen Miniaturen zusammen. Welche Ausdrucksmöglichkeiten in einem abgewinkelten rechten Handgelenk, welche Noblesse in bewußt gesetzten, leicht schleifenden Schritten mit Schnallenschuhen liegen, erfahren die Gesangsstudenten von ihrem Gestikdozenten Ian Caddy und der Spezialistin für Tanz des 18. Jahrhunderts Margit Legler. Während einige üben, ihren Köprer so zu kontrollieren, deklamieren andere mit Giovanna Gronda, die in barocken italienischen Libretti zu Hause ist, ihre Rezitative. Reinhard Strohm, Fachmann für barocke Dramaturgie, erläutert die musikalischen Hintergründe. Inhalte werden zelebriert, und ob die Zeremonie eines Auftritts überzeugend wirkt, entscheidet sich nicht nur am Gesang, sondern womöglich am Augenaufschlag. Um noch einmal die „Bühnenwirksamkeit“ zu strapazieren: Sensible Bewegungen aus dem Gestenrepertoire verdeutlichen Ariannas Verzweiflung weitaus mehr als das Belcanto- Schluchzen in ein demonstrativ gezücktes Taschentuch.

„Wir sind durch das Gehampel des Regietheaters verdorben“ — die Worte des musikalischen Leiters der Werkstatt, Reinhold Kubik, machen deutlich, daß die Bemühungen um „Modernität“ der barocken Opera seria zur lähmenden Konvention werden kann. Statt dessen bietet das Akzeptieren der heutigen „Übersetzungsschwierigkeiten“ eine ungeheure Fülle an möglichen Entdeckungen. Erhebt man diese Fremdheit zum Regiekonzept, so ist auf einmal Raum für barocke Bühnenpraxis: Affekte, Gestenrepertoire und Bildanspielungen lösen das vermeintlich starre Formschema in feinverästelte Beziehungen auf — und plötzlich verfeinert das Eintauchen in eine andere, stilisierte Erlebniswelt auch die Wahrnehmung der Musik. Ulrike Brenning