INTERVIEW
: „Entweder gibt es eine Massenflucht, oder die Menschen werden sterben“

■ Gespräch mit Berhe Tesfamariam, Leiter von „Eritrean Relief Association“ in Köln/ Ende März sind die Nahrungsmittelvorräte erschöpft/ „Eritrea ist in Vergessenheit geraten“

taz: Wie erlebt ein Reisender heute Eritrea nach so langer Dürre?

Berhe Tesfamariam: Wer Eritrea in früheren Jahren besucht hat, der würde das Land heute kaum noch wiedererkennen. Aus dem Grün ist das Braun der Trockenheit geworden. Das ist die Dürre. Die Lage ist äußerst dramatisch, und die Menschen sind verzweifelt. Ausländische Hilfe kommt nicht in dem Maße, wie man erwartet hatte. Weit schlimmer als die Knappheit an Nahrungsmitteln ist allerdings der Umstand, daß es kein Trinkwasser mehr gibt. Früher hat man Brunnen bis zu 50 Meter tief gegraben, jetzt muß man über 150 Meter bohren und findet dennoch kein Wasser. So konzentriert man sich jetzt darauf, die Menschen zu retten, das Vieh gilt ohnehin als verloren.

Worin unterscheidet sich die Lage heute von der Not Mitte der achtziger Jahre?

Mitte der achtziger Jahre hatten wir auch eine schwere Dürre, aber dann gab es doch geringe Niederschläge. 1988 zum Beispiel regnete es ein wenig, doch seither hat Eritrea überhaupt keinen Regen gesehen. Das macht die Lage sehr ernst und sehr schwer. Wir haben die internationalen Organisationen schon im vergangenen Jahr dringend darauf hingewiesen, daß eine Katastrophe droht, wenn die Hilfe ausbleibt. 1991 hat Eritrean Relief Association (ERA) außer einigen UNO-Lieferungen noch keine Hilfe bekommen. Da spielen gewiß der Golfkrieg und die Maßnahmen für die osteuropäischen Länder eine Rolle. Wir haben den Eindruck, daß Eritrea in Vergessenheit geraten ist.

Welche Bedeutung hat die Lieferung von Nahrungsmitteln durch das World Food Program (WFP) der Vereinten Nationen?

World Food Program hat dankenswerterweise im Januar begonnen, Nahrungsmittel über Massawa zu liefern. Doch das reicht bei weitem nicht aus. In dieser Region betreut ERA rund 850.000 Menschen. Wir erhalten von WFP etwa 10.000 Tonnen. Das ist immerhin etwas, doch auf Dauer reicht es nicht. Die Leistungen von WFP beschränken sich auf eine bestimmte Region. ERA aber hat insgesamt über zwei Millionen Menschen zu versorgen. Die Mehrheit kann nur aus dem benachbarten Sudan beliefert werden. Es gibt Gebiete in Eritrea, die von Massawa aus nicht zu erreichen sind, und dort leben nahezu 1,3 Millionen Menschen.

Wie geht ERA zur Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln vor?

Fast unsere gesamte Infrastruktur ist auf die Cross Border Operations aus dem Sudan abgestellt. Dieser Weg ist der sicherste, und unsere Transportfahrzeuge verkehren hier. Es wäre äußerst schwierig, von Massawa aus zu operieren, weil die äthiopischen Militärs das Gebiet von der Hauptstadt Asmara bis Keren kontrollieren. Doch diesen Korridor müßten unsere Fahrzeuge durchqueren. Das heißt der Weg in den Westen des Landes ist uns von Massawa aus verschlossen. Das können wir nur über die Cross Border Operations von Port Sudan nach Kasela leisten, von wo wir ohne weiteres nach Westeritrea gelangen können oder von Kasela in den nördlichen Teil des Landes.

Was wir im Moment verteilen können, sind die Mengen, die wir von World Food Program in Massawa erhalten. Wir machen uns größte Sorgen, daß wir für die Cross Border Operations bislang keine Nahrungsmittel erhalten haben. Deshalb werden wir alle Hilfsorganisationen noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen: Wenn Nahrungsmittel für die Cross Border Operations ausbleiben, kommt es in Eritrea zu einer Katastrophe.

Was wird geschehen, wenn tatsächlich keine Lebensmittel nach Eritrea gelangen?

Wenn keine Lebensmittel nach Eritrea gelangen, müssen wir uns womöglich auf eine Massenflucht in den Norden oder in den Sudan einstellen — obwohl der Sudan selbst von einer Dürre betroffen ist —, oder die Menschen werden sterben. Bis jetzt sterben die Menschen in Eritrea noch nicht an Hunger, aber jeder Tag bringt sie dem Hungertod näher. Und Menschen, die überhaupt keine Nahrungsmittel mehr zur Verfügung haben, bleibt nur übrig, sich auf die Suche zu machen. Im Westen Eritreas, in der Region Barentu, kommen jeden Tag etwa hundert Leute an, weil sie auf der Suche nach Nahrungsmitteln sind.

Wann werden die Nahrungsmittellager völlig zur Neige gegangen sein?

Wenn bis Ende März keine neuen Nahrungsmittel eintreffen, dann wird es womöglich zu einer Massenflucht kommen. Die Mittel, die wir derzeit verteilen, stammen noch aus Zusagen des vergangenen Jahres, die kürzlich ausgeliefert wurden. Die Hilfsorganisationen sind darüber informiert, wenige haben überhaupt reagiert. Von seiten der Regierungen, die uns bislang unterstützt haben, sind keine Reaktionen gekommen. Die Hilfsorganisationen sind ebenso empört darüber. Aber Regierungen zu überzeugen kann dauern.

Kann ERA genügend Transportmittel mobilisieren?

Wir haben rund 350 Lastwagen, mit denen wir Nahrungsmittel liefern können. Für eine wirksame Hilfe brauchen wir 30.000 Tonnen pro Monat. Derzeit haben wir gerade knapp die Hälfte zu transportieren. Aber falls Hilfen kommen sollten, dann haben wir auch die Möglichkeit, die Menschen zu erreichen. Wenn ERAs Transportmittel nicht ausreichen, können wir andere Wege finden. 1990 haben wir etwa 450 private Lastwagen hinzupachten müssen, um die Verteilung der Nahrungsmittel schnell und gezielt durchzuführen. Ein Problem sind natürlich die enormen zusätzlichen Kosten. Deshalb sollten die Organisationen bereit sein, bei Nahrungsmittellieferungen auch die Transportkosten zu bedenken. ERA arbeitet seit 15 Jahren, an Erfahrungen und Infrastruktur fehlt es nicht. Was fehlt, sind die Nahrungsmittel.

Welche Aussichten gibt es für 1991, wenn womöglich erneut der Regen ausbleibt?

Unsere einzige Hoffnung ist, daß der Krieg beendet wird. Da gibt es Bewegung sowohl in Richtung auf eine friedliche Lösung, aber auch militärisch. Ein Ende des Krieges kann die Rettung sein. Wenn der Krieg andauert und die Hilfsgüter ausbleiben, dann wird ein großer Teil der Bevölkerung Eritreas versuchen zu fliehen, und die Rationen werden noch weiter eingeschränkt werden. Aber wir hoffen, daß es nicht so weit kommen wird. Derzeit leben bereits über eine halbe Million Flüchtlinge allein im Sudan. Die Folgen einer Flüchtlingswelle könnten verheerend sein. Interview: Ulrich Stewen