Es gibt nicht ,das‘ westliche Modell

■ Seit Jahrzehnten gibt es massive staatliche Förderprogramme — sie helfen nicht viel — in Italien/ Was dem vereinten Deutschland das Gefälle West-Ost, ist in Italien die Differenz zwischen Norden und Süden/ Kann spezifische Unterentwicklung eine Seite von Modernität sein?/ Von Peter Kammerer

Der jüngeren nationalen Geschichte Italiens und Deutschlands ist gemeinsam, daß beide Länder verspätet und darum unter besonderen Schwierigkeiten ihre nationale Einigung vollzogen haben und die politische und wirtschaftliche Struktur beider Länder lange vom Neben- und Miteinander einer hochmodernen Industrie mit relativ feudalen Agrarverhältnissen gekennzeichnet war. Das trug zu einer Instabilität demokratischer Strukturen bei und auch dazu, daß sich die allen imperialistischen Ländern gemeisame Tendenz der Kolonisierung schwächerer Volkswirtschaften mit besonderer Aggressivität nach innen und gegen die unmittelbaren Nachbarn richtete. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten beide Länder ihr kapitalistisches Wirtschaftswunder jeweils im halben Land. Heute, nach dem Scheitern des Versuchs einer eigenständigen Entwicklung in der DDR, nehmen die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland Formen an, die erneut an Italien erinnern: nämlich an das italienische Nord-Süd-Verhältnis mit seinem Einkommensgefälle, seiner unterschiedlichen Ausstattung mit Infrastrukturen und privatem Kapital und mit seinem chronischen Transferbedarf öffentlicher Mittel. Im Jahre 1989 lebten in Süditalien 36,6Prozent der italienischen Bevölkerung, 30 Prozent der Beschäftigten und 59,1 Prozent der Arbeitsuchenden. Die Wertschöpfung pro Kopf liegt in Süditalien bei 56 Prozent des norditalienischen Niveaus.

Ich möchte im folgenden die Entwicklung des italienischen Nord- Süd-Verhältnisses unter der Fragestellung skizzieren, ob wir aus dieser Erfahrung für die deutsch-deutsche Entwicklung gewinnen können.

Die garibaldischen Freischärler, die 1860 Süditalien von den Bourbonen befreiten, hatten sich Illusionen über die Stimmung der Bevölkerung und über die eigene Stärke gemacht. Wenige Monate nach ihrem Siegeszug waren sie keine politische Kraft mehr, sondern nur noch moralische Aushängeschilder. Positiv gewendet: Garibaldi hatte zwar in der aktuellen Politik nichts mehr zu melden, blieb aber eine identitätstiftende Leuchtschrift. Der Süden wurde de facto durch Piemont annektiert, das seine Gesetze und sein Verwaltungssystem auf den neuen Landesteil übertrug. In einer ersten Phase wurden die Einführung des Freihandels und das Abschütteln feudaler Fesseln — insbesondere die Privatisierung des Misch- und Gemeinbesitzes an Grund und Boden — als Maßnahmen angesehen, die von selbst zu mittelständischem Fortschritt und Wohlstand führen würden. Aber den Preis der Privatisierung zahlten die armen Bauern, die nun das vergangene Regime verklärten und massenhaft zu reaktionären „Sozialrebellen“ wurden. Daß diese nicht nur damals verklärt wurden, sondern auch heute, selbstverständlich unter ganz anderen historischen Verhältnissen, die Gefahr einer „Verklärung“ der vergangenen Verhältnisse besteht, hat Günter Kunert angemahnt ('FAZ‘, 29.12.90). Aus Gründen der politischen Stabilität und des Schutzes des Privateigentums unterstützten der Norden und seine Verwaltung in den Anschlußgebieten die alten, bisher bekämpften Machtstrukturen des Großgrundbesitzes. So wechselten lediglich Name und Coleur der Machthaber oder, wie Tommaso Di Lampedusa formulierte: „Alles mußte sich ändern, damit alles beim alten bleiben konnte.“ Der durch die Landverteilung entstandene neue agrarische Mittelstand blieb schwach und unter der politischen Vormundschaft der Latifundien.

Ein großer Teil der neuen Eigentumstitel an Grund und Boden blieb juristisch umstritten. Da die neuen Gesetze und Vorschriften nur selektiv im Interesse der Begüterten gehandhabt wurden, erhielt die Rechtsunsicherheit einen Dauerstatus. Begüterte setzten ihre Ansprüche durch Korruption, soziale Aufsteiger und durch bewaffnete Selbsthilfe durch. Die hilflosen Massen reagierten mit Rebellionen und mit gelegentlicher Brandschatzung der Katasterämter. Individueller Landhunger und Erinnerungen an den alten Gemeinbesitz wurden zu fixen Ideen des kollektiven Bewußtseins. Wo kleine und mittlere Eigentumstitel durchgesetzt werden konnten, verwandelte sich der Süden in eine fruchtbare Gartenlandschaft. Der Großgrundbesitz blieb von uneingelösten sozialen Ansprüchen belastet und wirtschaftlich unproduktiv.

Nach dem Zweiten Weltkrieg deklarierte man unter dem Einfluß der damaligen amerikanischen entwicklungstheoretischen und -politischen Vorstellungen den Süden Italiens zum Entwicklungsland. In etwa zehn Jahren, so dachte man, könnte der Süden den Norden einholen, falls man die Fehler der Vergangenheit vermeiden würde. Bisher hatte der Norden aus dem Süden Kapital für seine eigene Entwicklung abgezogen, jetzt müßte das Umgekehrte passieren; bisher war die Arbeitsteilung Süd- Nord nach dem Stadt-Land-Modell festgeschrieben worden, jetzt müsse nach einer Phase der Landreform und der Infrastrukturinvestitionen die Industrialisierung des Südens erfolgen. Eine eigene Behörde, die „Casa per il Mezzogiorno“, sollte die Umverteilung der öffentlichen Mittel vornehmen, die Infrastruktur verbessern und Investitionszuschüsse an die private Industrie gewähren. Zu diesem Instrumentarium gehörten außerdem zinsverbilligte Kredite und fiskalische Maßnahmen. Doch schon nach wenigen Jahren wurde klar, daß der Süden den Norden nicht einholen, sondern bestenfalls gleiche Wachstumsraten wie der Norden erzielen konnte. Das ist bis heute so geblieben. Zwischen 1950 und 1989 stieg die süditalienische Wertschöpfung pro Kopf der Bevölkerung von 55 auf 60Prozent derjenigen Norditaliens an, um bis 1989 wieder auf 56,4 Prozent abzusinken. Im Verlauf einer Hochkonjunktur im Norden vergrößerte sich jedesmal der Abstand. Sichtbar wurde dies bereits beim großen Wirtschaftswunder in den Jahren von 1958 bis 1963. Zu diesem „Wunder“, und damit auch zur Vergrößerung des Abstandes, hatte der Süden entscheidend beigetragen. Die öffentlichen und privaten Ausgaben im Süden verwandelten sich zum großen Teil in Nachfrage und nach im Norden hergestellten Gütern; die vom Süden in den Norden wandernden billigen Arbeitskräfte trugen zur internationalen Konkurrenzfähigkeit der norditalienischen Industrie bei. Selbst während der Hochphase des „Wirtschaftswunders“ (bis 1963) gab es keinen Anstieg der Reallöhne. Trotzdem wurde von liberaler Seite die mangelnde Elastizität der Löhne nach unten für die fehlenden Investitionen im Süden verantwortlich gemacht.

Das Wirtschaftswunder Italiens hatte schon Mitte der 60er Jahre zu drei fundamentalen Ungleichgewichtigkeiten geführt: a) zur Orientierung der ärmeren Gebiete am Konsummodell der reichen Länder und damit auch zur Vernachlässigung kollektiver Bedürfnisse (Gesundheit, Verkehr, Ausbildung) zugunsten der Befriedigung gehobener privater Konsumwünsche; b) zur Erweiterung des dualen „gap“ zwischen der traditionellen, arbeitsintensiven Industrie und dem modernen, kapitalintensiven Sektor; c) zur Vertiefung des Unterschieds zwischen Nord und Süd. Nur eine demokratische Planung der Investitionstätigkeit könne den spontanen Marktkräften gegensteuern und diese Probleme lösen, meinte eine Mehrheit quer durch die Parteien — von den Kommunisten bis zu den Christdemokraten. Das Südproblem — so lautete ein neuer Konsens — betreffe nicht nur den Süden; ein „einziger Mechanismus“ („il meccanismo unico“) erzeuge auf der einen Seite Wohlstand, auf der anderen aber Unterentwicklung. Eine Lösung der Südfrage erwartete man nicht mehr vom bloßen Transfer von Akkumulationsenergien, sondern man stellte das Akkumulationsmodell selbst in Frage. Treibende Kraft einer praktischen Kritik war die Arbeiterbewegung.

Bereits im Jahre 1957 wurde das Imperium der Unternehmen mit Staatsbeteiligungen (IRI, ENI, EFIM etc.) verpflichtet, 60 Prozent ihrer Neuinvestitionen in Süditalien zu tätigen. Das Ergebnis dieses im wesentlichen nie eingehaltenen Gesetzes und des Übergangs von der Konzeption einer feinmaschigen, arbeitsintensiven Investitionsförderung zu einer kapitalintensiven Schwerpunktbildung sind die sogenannten „Kathedralen in der Wüste“ der Petrolchemie und der Stahlindustrie. Die neue Arbeiterklasse dieser Industrieenklaven erkämpfte zusammen mit den Arbeitern des Nordens die Beseitigung der sogenannten „gabbie salariali“, der territorialen Lohnabstufungen. Gleiche Löhne im Norden wie im Süden sollten die Abwanderung von Arbeitskräften eindämmen und die Industrie zwingen, beabsichtigte Neuinvestitionen in den Süden zu verlegen, was dann auch in der Periode zwischen 1969 und 1973 tatsächlich passierte. Ausschlaggebender Faktor: Die Industrie wollte den Arbeitskonflikten im Norden ausweichen. Der Anteil des Südens an den Industrieinvestitionen Italiens stieg in diesen vier Jahren von 28,1 auf 33,5 Prozent. Die sogenannte Ölkrise und die anschließende Stahlkrise hatten dann Mitte der 70er Jahre diese Industrialisierung abrupt gestoppt. In den 80er Jahren fiel der Anteil des Südens an den industriellen Investitionen des Landes unter 25 Prozent. Wie zum Trost entdeckte man die postmoderne Blüte der Schattenwirtschaft.

Wer sich Ende der 70er Jahre mit Mezzogiorno beschäftigte, stand vor einem konzeptionellen Trümmerhaufen. Keine der hochgespannten Erwartungen war eingetreten. Weder die geradlinigen Modernisierungs- und Rationalisierungsvorstellungen der technokratischen Denker in Entwicklungsstadien, noch die politökonomischen Vorstellungen von dialektischen Umwälzungen gaben ein brauchbares Bild der Wirklichkeit. Ein Paradigmenwechsel war fällig. Der Süden erscheint dem heutigen Beobachter als hybride Mischung, als ein Chaos: enorm resistent gegen Neuerungen und doch deren leichte Beute; rebellisch, aber christdemokratisch; anomisch und durchzogen von sozialen Bindungen; eine Überflußgesellschaft, der es am Nötigsten fehlt, nämlich an Arbeit; erdbebengebeutelt und postindustriell; ein Eldorado staatlich geförderter Schattenwirtschaft mit der Mafia als größtem Konzern, der umsatzmäßig inzwischen selbst FIAT überrundet hat. Anständige Politökonomen wenden sich von diesem Bild mit Grausen und überlassen das zerklüftete Forschungsfeld den Anthropologen und soziologischen Abenteurern. Der Süden hat anscheinend im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus einen eigenen, dritten Weg entdeckt. Oder vorsichtiger: einen eigenen Wirtschaftsstil, der nun seinerseits nordwärts dringt. „Die Palmengrenze verschiebt sich nach Norden“, schrieb Sciascia.

Wir sind weit von deutschen Verhältnissen entfernt. Und doch habe ich den Eindruck, daß einige der ins süditalienische Chaos vorangetriebenen Interpretationspfade für die Klärung auch unserer Verhältnisse von unmittelbarer Bedeutung sein können.

Der regelmäßige und riesige Einkommenstransfer hat die süditalienische Klassenstruktur verändert. Den Geldkanälen entlang, die von Rom ausgehend bis ins kleinste Dorf führen, hat sich nicht nur eine Bürokratie, sondern auch eine ganze Schicht von Vermittlern und Agenten gebildet. Diese vermarkten ihr Wissen und ihre Beziehungen und spielen die Makler im Tauschgeschäft, in dem es um Partizipation an politischer Macht und Partizipation an öffentlichen Mitteln geht. An diese Mittel heranzukommen ist für fast alle Unternehmen erfolgsentscheidend und für weite Teile der Bevölkerung eine Existenzfrage. Ähnliches gilt für den Arbeitsmarkt. Nur im Netzwerk von weiten Familien- und Klientelbeziehungen sind Arbeitsplätze zu finden. Die begehrten Arbeitsplätze und Tätigkeitsfelder liegen nicht in der Produktion, sondern im formellen und informellen Apparat zur Kontrolle und Verteilung öffentlicher Mittel. Dieser Apparat, zu dem auch ein guter Teil der organisierten Kriminalität gehört, spielt die zentrale Rolle in der süditalienischen Wirtschaft und Gesellschaft. Er hegemoniert die gesamte Produktionsstruktur. Die Allokation von Geld, Kredit und Arbeit erfolgt zwar über Märkte, deren Funktionsweise und System haben jedoch wenig mit unseren Vorstellungen von freier Marktwirtschaft zu tun. Augusto Graziani, einer der bedeutendsten Ökonomen Italiens, beschrieb das kürzlich so: „Wir bezeichnen diese Strukturen hartnäckig als Marktwirtschaft, aber in Wirklichkeit handelt es sich um das modernisierte Spiegelbild einer feudalen Wirtschaft — mit dem Unterschied, daß die Rolle des Bodens durch die öffentlichen Ausgaben eingenommen wird.“ Wenn Graziani Recht hat, bedeutet das, daß das Ergebnis der Einführung der freien Marktwirtschaft nicht unbedingt eine freie Marktwirtschaft sein muß.

Ich nehme an, daß diese Gedankengänge eine größere Rolle für Osteuropa als für Ostdeutschland spielen könnten. Aber auch nur auf Deutschland angewandt sind sie geeignet, den gegenwärtigen breiten Konsens fragwürdig zu machen.

Das Beispiel Italien zeigt, daß es das „westliche Modell“ tout court nicht gibt, daß die kapitalistische Wirklichkeit selbst in einem Land wesentlich differenzierter ist als gemeinhin angenommen wird. Die relativ homogene Bundesrepublik ist eher eine Ausnahme als die Regel und sie wird durch den Einigungsprozeß differenzierter und komplexer. Denn die Einführung der Marktwirtschaft im Beitrittsgebiet vollzieht sich ja nicht im luftleeren Raum, sondern auf dem Boden mehr oder weniger resistenter materieller und immaterieller Strukturen. Gerade der heute so mächtig wirkende Rückgriff auf die Geschichte vor der Gründung der DDR zeigt, welche Rolle die Vergangenheit für die Zukunft spielt. Zur wirksamen Vergangenheit gehört aber auch die Geschichte der DDR. Unter der Käseglocke des real existierenden Sozialismus entwickelten sich hybride Mischungen, zum Beispiel Refeudalisierungsprozesse unter sozialistischen Vorzeichen. Was passiert unter der Käseglocke der freien Marktwirtschaft mit dem Experiment, das bereits im vollen Gange ist?