»Die Sektion steckte voller Opportunisten«

■ Nach der Abwicklung und vor Beginn des neuen Semesters ziehen Ökonomiestudenten der Humboldt-Uni eine traurige Bilanz: Ein sinnloses Jahr/ Unfähigkeit zur Erneuerung bei Professoren, Rolle der Studenten war »peinlich«

Mitte. Die Abwicklung hätte schon viel früher kommen müssen. Diesen Satz konnte man bei den Wirtschaftswissenschaftlern der gegen die Abwicklung kämpfenden Humboldt- Universität in den letzten Wochen öfter hören. Da klingt Resignation mit und gleichzeitig so etwas wie Befreiung. Es ist paradox: Die Unfähigkeit des Fachbereiches, sich selbst zu erneuern, ließ viele insgeheim doch auf eine Lösung von oben hoffen. Mit dem Abwicklungsbescheid gibt es für sie nach der ungewissen Situation endlich so etwas wie Klarheit.

Das ruhende Arbeitsverhältnis sämtlicher Mitarbeiter steht auf dem Papier. Entweder, sie rutschen aus der Warteschleife wieder in die Hörsäle oder in die Arbeitslosigkeit. Über alles andere, über die Vergangenheit, braucht man dann nicht mehr zu reden.

Das ganze letzte Jahr sei sinnlos gewesen, sagt Andre Stalph vom Studentenrat und meint damit alle hilflosen und halbherzigen Versuche, den Fachbereich zu erneuern. Die Abwicklung degradiert nun alles, worum einige Unbeirrbare gestreikt und geklagt haben, zur Makulatur. Der neue Gründungsdekan ist bestellt. Wilhelm Krelle, dessen Namen der Rektor Heinrich Fink wieder einmal aus der Zeitung erfuhr, kommt direkt aus Bonn. Er soll nun nachholen, was die Kollegen im Osten bisher nicht geschafft haben.

Allmacht der Ordinarien und Prostitution im Haus

Daß die meisten Wirtschaftswissenschaftler lieber die Abwicklung herbeiwünschten als ihren Laden tatsächlich umzukrempeln, liegt wohl auch daran, daß die »Sektion voller Opportunisten steckte«, denkt der Betriebswirtschaftsstudent Uwe Peter. Veränderungen stebte man nur an, wenn es dabei irgendwie gelang, den Besitzstand zu wahren. Aus den ehemaligen Wissenschaftsbereichen wurden über Nacht Institute gegründet, die den neuen Lehranforderungen entsprechen sollten. Das Umschalten vom Plan zum Markt ging hier wesentlich schneller als in der Realität. Der Bereich Sozialistische Finanzwirtschaft brachte gleich vier Institute hervor. Darunter Währung und Banken, Versicherungen, Finanzen und Steuern. Sinn dieses Verfahrens war es, Lehrstühle zu sichern. Die meisten der insgesamt 16 Institute — an der FU gibt es 11 für fast viermal so viele Studenten — wurden nur mit einem oder zwei Professoren besetzt.

»Das war die Allmacht der Ordinarien und der Prostitution hier im Haus«, sagt der Fachbereichsratssprecher Peter Eckstein. »Die haben natürlich davon geträumt, einem eigenen Institut vorzustehen«, meint Eckstein. Daß frühere Bereichsleiter wieder diese Posten übernahmen, war für den Dekan Klaus Kolloch ganz logisch. »Wir mußten ja mit den Leuten arbeiten, die wir hatten.« Jüngere Wissenschaftler aus dem Mittelbau auf diese Stellen zu setzen, schien unmöglich, »weil es so üblich ist, daß Professoren die Leitung übernehmen«, redet sich der Dekan heraus.

Der ganze Prozeß war ein einziger Kompromiß

Kolloch, ein Mann des Ausgleichs, wie ihn die Studenten nennen, wurde nachdem die alte Leitung abgetreten war, demokratisch gewählt. Damit begann der Prozeß eines fortdauernden Kompromisses. Für ihn war es »Einsicht in die Notwendigkeit«, als er den Fachbereich übernahm. Er galt als fachlich versiert und ist, wie er selbst sagt, »in der Vergangenheit mit den Kollegen gut zurechtgekommen«. Wie sollte dieser Mann seinen Stall ausmisten?

Student Andre glaubt, für diese Aufgabe müsse man brutal sein. Kolloch konnte das nicht. Er wollte mit der neuen Institutsstruktur den »inneren Frieden im Haus bewahren«, so seine öffentliche Erklärung. Eine ernsthafte Auseinandersetzung unter den Mitarbeitern wurde mit der Begründung, der Studienprozeß muß unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben, immer wieder verdrängt. Wenn der Fachbereichsrat dieses Konzept nach außen hin nicht getragen hätte, erinnert sich Eckstein, hätte es im Haus Krieg gegeben. Und so schwiegen die Ökonomen lieber still.

Jeder scheute sich davor, über den anderen richten zu müssen. Wer von ihnen sollte sagen, wer der schlimmere »Rechtfertiger der Parteitagsbeschlüsse« war, wie es der Demograph Dieter Vogeley, heute Mitarbeiter des Kanzlers, nannte. Ihn hatte man noch im Oktober 89 wegen einer Einschätzung zur Massenflucht der DDR-Bürger im 'Spiegel‘ rausgeschmissen. Schon bei der Bildung des Fachbereiches gab es Schwierigkeiten, sogenannte unbelastete Wissenschaftler zu finden. Letztlich kamen sie aus den Randbereichen wie Statistik und Demographie, die gar nicht in der Lage sein konnten, ein geschlossenes Konzept für den erneuerten Fachbereich zu entwickeln.

Simples Schema diente der Opfersuche

Erst als Ende letzten Jahres der Druck von außen so groß wurde, sah man sich gezwungen, »Namen zu nennen«, sagt Eckstein. In einer »knallharten Sitzung« hätte man 17 Leute gefunden, von denen nach langem Hin und Her schließlich fünf von 160 Mitarbeitern übrig blieben, denen gekündigt werden sollte. In der Eile, so Eckstein, hätte man zu einem Schema greifen müssen: Danach standen Wissenschaftler, deren Berufungsgebiete weggefallen waren und die zu alt seien, zur Disposition.

Die Auseinandersetzung um belastete oder nicht mehr tragbare Wissenschaftler fiel bei diesem letzten Versuch wieder unter den Tisch. Andre, der als Studentenvertreter in der Kommission saß, hat sich nach der »Opfersuche« regelrecht geschämt. »Das Ganze war bloß eine Konzession an die Uni«, sagt er. Die hatte vor allem von den abwicklungsbedrohten Fachbereichen eine wirklich strukturelle und personelle Erneuerung gefordert, um mit ihrem Weg der Überprüfung aller Mitarbeiter glaubwürdig zu erscheinen. Mit derartigem Taktieren wie bei den Wirtschaftswissenschaftlern wurde den Erneuerungskräften der Uni ständig die Beine weggeschlagen.

Die Rolle der Ökonomiestudenten empfindet Andre Stalph in dem Prozeß mehr als peinlich. Im Studentenrat sind gerade mal drei Leute übrig geblieben, von denen, die angetreten sind, um an der Uni aufzuräumen. Verwunderlich ist das für den Volkswirtschaftler nicht. »Wer hierher kam, wollte unbedingt nach Berlin und nach der Lehre mehr Geld verdienen. Das Diplom war ein besserer Fachschulabschluß.« Die wirklich kritischen Geister hätten in der Politischen Ökonomie gesessen. Da habe es vielleicht fünf gute Professoren gegeben, die man jetzt nicht mehr braucht. Dafür seien, ergänzt Uwe, die Betriebs- und Volkswirtschaftler »intellektuell völlig unterbelichtet«.

Arbeitsmarkt bald voll von Westlern

Es sei für ihn schlichtweg psychische Grausamkeit, wenn Leute, die vorher sozialistische Volkswirtschaft lehrten, heute etwas von Marktwirtschaft erzählen. Dabei nur das nachplappern, was sie zuvor selbst erst im Seminar beim Westprofessor mitgeschrieben haben. Als das ganze Theater losging ist Uwe Peter erstmal in die Schweiz gefahren um dort in einer Unternehmensberatung zu arbeiten. Jetzt will er wie die meisten Studenten so schnell seine Stunden zusammmenkriegen. Aber das derzeitige Angebot würde nicht mal reichen, um das Vordiplom abzulegen.

Die besten Leute sind längst schon weg

Dabei drängt die Zeit, weil die Chancen auf dem Arbeitsmarkt immer geringer werden. »Für nächstes Jahr sind die Aussichten noch gut«, schätzt Uwe, »aber dann sind die Westler hier und alles ist voll.«

Wie es im nächsten Semester weitergeht, kann niemand sagen. Der Gründungsdekan hat sich noch nicht einmal vorgestellt. Mit welchen Mitarbeitern er antritt, bleibt fraglich. »Die besten Leute sind längst weg«, meint Uwe Peter. Sie sitzen jetzt in Wirtschaftsprüfergesellschaften, Banken und an exponierten Stellen der Industrie mit riesigen Gehältern. Über die Zurückgebliebenen würden die nur noch mitleidig lächeln, entfährt es dem Finanzwirtschaftler Detlef Hummel.

Um die Lehre fortzuführen, werden den Abgewickelten relativ automatisch befristete Arbeitsverträge angeboten. Das heißt also keine wirkliche fachliche und moralische Überprüfung. Sie dürfen dann solange die Kleinarbeit machen, bis die Aufbauhelfer aus dem Westen da sind. Schon jetzt zögern viele Wissenschaftler, die Verträge zu unterschreiben, da die Rechtslage, wie der Anspruch auf Arbeitslosengeld, nach deren Ablauf nicht geklärt ist.

Den Studenten ist mittlerweile egal, wer vor ihnen sitzt, wenn sie nach dem verlorenen Jahr endlich vernünftig Abschlüsse machen können. »Ob Ostler oder Westler«, glaubt Andre Stalph, auf die erkämpfte Position der Studenten in der Uni bezogen, »sobald die fest im Sattel sitzen, sind wir wieder draußen«. Anja Baum