RIECHERINNERUNGEN

■ Hommage: Helen Keller - Des Nasenbärs letzte Folge

Ich sehe zuviel, ich höre zuviel — fern von allem.

Soll ich mich blenden wie jener griechische Philosoph, der im Alter ungestörter denken wollte? Soll ich mich be-täuben, damit mein Geruchssinn wieder die frühere Schärfe bekommt?

Ein Paradies ist mir verloren. „Das“ Paradies ist auch zerstört. Ja, dort, wo Eden sich befunden haben soll, in der Gegend um Basra, bleiben uns nur zerzauste Dattelpalmen und keine Apfelbäume. Erkennen kann ich, wie der Schutt leise knirscht, wenn ein trauriger Araber drüber läuft. Aus der Ferne. Könnten wir auch fernriechen, wäre die Zensur weniger machtvoll.

Riechen ist ein Nahsinn. Das Paradies der Nähe geht aber uns Fernsprechern, -sehern, -hörern, -schreibern, -sexern verloren. Spüren tun es hauptsächlich noch die „Behinderten“. Gabi (taz-Layouterin) war mit acht Jahren „ertaubt“, wie sie es nannte, hatte einen ausgeprägten Riechsinn. Helen Keller wurde mit anderthalb Jahren taub und blind. Was sie über Meine Welt geschrieben hat, ist ein starkes Argument dafür, daß wir Behinderte „anders Begabte“ nennen.

Helen freute sich: „Das Schweigen und die Dunkelheit, die mich angeblich umschließen, öffnen sehr gastlich meine Tür unzähligen Empfindungen...“ ('Der Grüne Zweig‘ Nr.137) „Ich bezweifle, daß das Gesicht eine köstlichere Empfindung gewähren kann als ... die Düfte, die aus sonndurchwärmten, windbewegten Zweigen strömen... Ein Hauch aus dem Weltall läßt uns Welten träumen, die wir nie gesehen haben, ruft uns in einem Nu ganze Zeiträume teuerster Erinnerungen zurück. (...)

Der Duft von Früchten läßt mich zu meinem Heim im Süden entschweben, zu meiner kindlichen Ausgelassenheit unter den Pfirsischbäumen. Andere Düfte, die im Augenblick vorbeifluten, ergreifen mein Herz, daß es sich fröhlich weitet oder in kummervoller Erinnerung sich zusammenzieht. (...)

Der Geruchssinn hat mir einen nahenden Sturm gemeldet, stundenlang, bevor irgendein Anzeichen sichtbar war. Ich bemerke zuerst ein erwartungsvolles Herzklopfen, ein leichtes Beben, ein Zusammenziehen in meinen Nasenlöchern. Wenn der Sturm näherzieht, weiten meine Nüstern sich, um besser die Flut von Erdgerüchen zu empfangen, die sich zu mehren und sich auszubreiten scheinen, bis ich den Regen gegen meine Wange klatschen fühle. Wie der Sturm schneidet, weiter und weiter zurückweicht, entschwinden die Gerüche, werden schwächer und schwächer und ersterben jenseits der Schranke des Raums.

Neulich schritt ich einem mir vertrauten Walde zu. Plötzlich ließ ein störender Geruch mich verdrießlich stillstehen... Die Bäume wurden gefällt. (...)

Gewisse Leute haben einen unbestimmten, unkörperlichen Geruch; er spottet jedes Versuchs, ihn unter einen bestimmten Begriff zu bringen. Zuweilen begegne ich Leuten, denen ein unterscheidender Personengeruch fehlt; ich finde solche Menschen selten lebhaft und unterhaltend. Andererseits besitzen Leute mit stark ausgeprägtem Geruch oft große Lebhaftigkeit, Willens- oder Geisteskraft.“ ('Der Grüne Zweig‘ Nr.139)

Wer sich Riecherinnerungen ins Gedächtnis rufen möchte: Werner Pieper aus Löhrbach hat Helen Keller in mindestens drei 'Grünen Zweigen‘ zitiert. In dem eben erwähnten 139.: Handbuch für NasenbohrerInnen, ist allerdings auf der Mehrzahl der 175 Seiten Ekliges bebildert: Rotz, Schleim, Schnodder&Kränke. Aber Ekel ist ja angesagt, Ekeltypen sehn wir auf Plakatwänden, im Kino und — besonders oft — im Fernseher. Für alle, die die Nase voll haben??

Sicher kathartisch in seiner Wirkung das Popelbuch — und der Doppeldeutigkeit des Riechens wie des ganzen Lebens Raum gebend.

Aber, mir is'es zu unappetitlich — es lebe Helen Keller!

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