Voltaire im deutschen Bundestag

Erster Tag der Haushaltsdebatte in Bonn/ Waigel „im Windschatten“ Lafontaines/ Opposition wirft Regierung „Zwecklügen“ vor/ SPD spricht sich gegen die „Steuergeschenke für Reiche“ aus  ■ Aus Bonn Tina Stadlmayer

Die Leipziger PDS-Abgeordnete Barbara Höll beantragte, die Haushaltsdebatte des Bundestages zu verschieben und nach Berlin zu verlegen. „Innerhalb von drei Tagen“ sei es ihr nicht möglich gewesen, „zehn Kilo Papier zu bewältigen“, klagte sie. Auch Werner Schulz vom Bündis 90 hielt Berlin „für den besseren Ort“, um die Probleme der neuen Bundesländern zu diskutieren. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten lehnte jedoch eine Änderung des Terminplans ab, und so fand das angekündigte Rededuell zwischen Finanzminister Waigel und dem saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine im Bonner Wasserwerk statt.

Obwohl beide mit bissiger Polemik nicht sparten, wollte keine rechte Auseinandersetzung zustande kommen. Das Problem: Zu sehr ähneln sich inzwischen die Rezepte, mit denen die Bundesregierung und die Sozialdemokraten das wirtschaftliche Chaos in den neuen Bundesländern meistern wollen. Da verwunderte es nicht, daß der saarländische Ministerpräsident gestern der Bundesregierung „die Zusammenarbeit aller demokratischen Parteien“ bei der Lösung der Probleme anbot. Ansonsten konnte er nur immer wieder rügen, die Maßnahmen der Regierung seien „halbherzig“ und „wären längst fällig gewesen“. Mit Lafontainschen Sarkasmus meinte er, die Regierung bemühe sich sehr, „in unserem Windschatten zu fahren.“

Waigel verkündete, ab 1. Juli würde die Lohn- und Einkommenssteuer um einen Solidaritätszuschlag von 7,5 Prozent erhöht. Lafontaine kritisierte, nicht nur die Besserverdienenden, wie er vorgeschlagen habe, sondern „auch Familien mit geringem Einkommen“ würden zur Kasse geben. Im Prinzip sei die Ergänzungsabgabe jedoch seine Idee. Der Finanzminister kündigte eine höhere Mineralösteuer an. Lafontaine sagte, die sei zwar richtig, aber Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel müßten darüber hinaus belohnt werden. Waigel verkündete, die Beiträge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung würden angehoben. Lafontaine kritisierte, auch Beamte und Selbstständige müßten im Rahmen einer Arbeitsmarktabgabe zur Kasse gebeten werden. Einzig die von der Regierung geplante Streichung der Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer lehnte der Sozialdemokrat grunsätzlich ab: Sie sei ein überflüssiges „Steuergeschenk für Reiche“.

An einer Stelle merkte Lafontaine an: „Hier unterscheiden wir uns.“ Der „industrielle Kern“ in den neuen Bundesländern müsse erhalten bleiben. Die bestehenden Ressourcen könnten mittelfristig wieder ausgelastet werden. Bis dahin müßten sie „mit Übergangsregelungen, etwa Kurzarbeit erhalten bleiben“. „Gesundschrumpfung“ bei Produktion und Personal sei kein Allheilmittel. Zuvor hatte Finazminister Waigel in seiner Rede die „Gesundschrumpfung“ gepriesen: Die Treuhand müsse „auch bei Berücksichtigung von Beschäftigungsaspekten“ betriebswirtschaftlich rational bleiben. Den Sozialdemokraten warf er vor, sie wollten eine „Strukturkonservierung um jeden Preis“. Die sei jedoch „kein wirksames Mittel der Arbeitsplatzerhaltung.“

Waigel gab zu Beginn seiner Rede zu, „durch die Wiedervereinigung“ kämen auf den diesjährigen Bundeshaushalt 100 Milliarden an Mehrbelastung zu, behauptete aber, ohne den Golfkrieg hätte er die Steuern nicht erhöhen müssen. „Um hunderttausend Mann auf Totschlag zu schicken, dafür habt ihr Geld genug, aber nicht um Zehntausenden Lebensunterhalt zu verschaffen“ rief Lafontaine aus. Viele CDU- und CSU-Abgeordnete hielt es vor Empörung nicht mehr auf ihren Sitzen. „Diese Frage stellte Voltaire schon vor 200 Jahren“, merkte der Saarländer daraufhin an.

Werner Schulz vom Bündins 90 sagte, einziges finanzpoltisches Konzept der Bundesregierung sei es, „den Reichen zu geben und den Armen zu nehmen“.

Der PDS-Abgeordnete Uli Briefs sagte, die Regierung vertraue „allein auf die Selbstregulierung des Marktes und das freie Unternehmertum“. Die Folgen hätten die sozial Schwachen im Osten zu tragen.