Morgenröte für westdeutsche Atomiker

■ Im Gleichschritt marschieren Bundesregierung und Atomkonzerne West in Richtung Osten: Zwei neue 1.300-Megawatt-Reaktoren Marke Siemens/KWU sollen die sowjetischen Schrottreaktoren in Stendal...

Morgenröte für westdeutsche Atomiker Im Gleichschritt marschieren Bundesregierung und Atomkonzerne West in Richtung Osten: Zwei neue 1.300-Megawatt-Reaktoren Marke Siemens/KWU sollen die sowjetischen Schrottreaktoren in Stendal und Greifswald ersetzen. Gebraucht werden sie zwar nicht, und auch Arbeitsplätze werden durch die Neubauten nicht geschaffen. Aber sie führen immerhin die westdeutsche Atomindustrie aus ihrem Tief heraus. Ganz so sicher, wie die Atomgemeinde behauptet, sind die „sichersten Atommeiler der Welt“ indes nicht.

Für Jochen Holzer, Chef des Bayernwerks und „Politiker“ unter den deutschen Strommagnaten, stand es von Anfang fest: Die AKW- freie Zone in der ehemaligen DDR dürfe nicht zum Dauerzustand werden, vielmehr müsse die Atomenergie auch in den neuen Bundesländern baldmöglichst „einen nennenswerten Beitrag“ zur Stromversorgung liefern. Während in grün-bürgerbewegten Zirkeln noch darüber sinniert wurde, ob in ostdeutschen Landen nach dem sukzessiven Aus für die sowjetischen Altreaktoren ein ökologisch verträglicher Neuanfang ohne Atomstrom angesagt sei, lag für die dort engagierten Stromkonzerne Bayernwerk, RWE und Preussen Elektra die Marschrichtung längst fest. Neue Westreaktoren an den alten Standorten Greifswald und Stendal lautete die Devise. Von der Politik verlangten Holzer und Co. unmißverständlich Rückendeckung und eine „Entscheidung im ersten Vierteljahr 1991“. Die Rechnung scheint aufzugehen. Die CDU-Ministerpräsidenten in Schwerin und Magdeburg, Gomolka und Gies, signalisierten kürzlich ihr Interesse an atomarer Westtechnologie, der Bundeskanzler versprach in seiner Regierungserklärung einen „substantiellen Beitrag der Kernenergie ... auch in den neuen Bundesländern“. Und gestern schließlich kungelten die Oberstromer der drei Stromriesen im Hause Möllemann „einvernehmlich“ die Einzelheiten aus.

Anschließend lieferte der FDP- Minister per Pressemitteilung die eingeforderte „politische Rückendeckung“ ab: er unterstütze die Pläne der Konzerne für je einen neuen 1.300-Megawatt-Meiler in Greifswald und Stendal. Die Uranmaschinen würden die Bundesregierung dem Ziel einer „ausgewogenen Mischung“ der verschiedenen Energieträger näherbringen.

Das harmonische Bild schien zwischenzeitlich nur durch jene leicht getrübt, die die Atommeiler im Osten am Ende hochziehen sollen. Die Reaktorbauer des Siemens-Unternehmensbereichs Kraftwerksunion (KWU) in Erlangen spekulierten zwar einerseits darauf, ihre gähnend leeren Auftragsbücher mit zwei oder mehr 1.300-Megawatt-Neuanlagen der Baureihe 80 (s. Artikel unten) auffüllen zu können, andererseits winkte aber auch nach einer erfolgreichen Fertigstellung der sowjetischen Bauruinen in Greifswald und Stendal ein Jahrhundertgeschäft. Die beispielhafte Nachrüstung einer sowjetischen Reaktorruine und vor allem ihre atomrechtliche Genehmigung im Technologie-Dorado Deutschland, meint KWU-Sprecher Wolfgang Breyer, hätte „Pilotfunktion“ für Folgeaufträge im ehemaligen Ostblock und der Sowjetunion selbst übernehmen können. In diesen Ländern sind derzeit eine ganze Reihe der schon vor ihrer Fertigstellung veralteten Druckwasserreaktoren der WWER-Reihe im Bau. Während KWU seine Nachrüstkapazität bezüglich der 440-Megawatt-Reihe bereits im finnischen Loviisa (zwei Blöcke wurden nachträglich unter anderem mit einem Containment ausgestattet) unter Beweis stellen konnte, war das Interesse am Weiterbau der beiden 1.000-Megawatt- Meiler in Stendal bis zum Schluß groß. Eine „summarische Studie“ über die Bedingungen der Fertigstellung (Breyer) wurde erstellt — allein, es fehlte der Auftraggeber: der Fertigbau hätte nämlich kaum weniger gekostet als ein Neubau, vor allem aber wollte kein Stromkonzern das juristische Genehmigungsrisiko für einen deutsch-sowjetischen Reaktor-Bastard auf sich nehmen. Und so betrachtet der KWU-Sprecher die Entwicklung „mit einem weinenden Nachrüst-Auge und einem lachenden Neubau-Auge“.

Wer am Ende sonst noch lacht, steht angesichts der aktuellen Planung in den Sternen. Kein Grund zur Freude bleibt jedenfalls den Steuerzahlern. Die müssen nun endgültig allein für die Milliardenbeträge aufkommen, die die noch von der DDR abgeschlossenen Lieferverträge mit der Sowjetunion, das Einmotten und der Abriß der strahlenden Ruinen und nicht zuletzt die — bisher völlig ungeklärte — Einlagerung des radioaktiven Atommülls über Jahrzehnte verschlingen werden. Daß die Stromwirtschaft mit all dem nichts zu tun haben will, steht fest, seit im vergangenen August der Ex-Umweltminister und Ex-Stasi-Mitarbeiter Steinberg (CDU) den umstrittenen Stromvertrag mit den Westkonzernen unterzeichnete. Darin hatten die Stromer sich strikt geweigert, den maroden atomaren Teil der DDR- Stromwirtschaft zu übernehmen.

Das „nicht unumstrittene Engagement“ der Stromwirtschaft in den neuen Ländern soll einer nach wie vor atomkritischen Bevölkerung nun unter dem Schlagwort „Diversifizierung der Stromstruktur“ oder „ausgewogener Energiemix“ nahegebracht werden. Nach der Stillegung von 1.830-Megawatt-Atomstromkapazität, hieß es gestern im Bonner Wirtschaftsministerium, stammen inzwischen 90 Prozent der Elektroenergie in der ehemaligen DDR aus der Braunkohle. Eine derart einseitige Abhängigkeit von einem Energieträger sei auf Dauer nicht tragbar. Doch das Argument kaschiert nur notdürftig die für die Atomiker ausgesprochen ungemütliche Tatsache, daß Atomstrom (der wie Braunkohle wirtschaftlich nur im sogenannten Grundlastbereich genutzt werden kann) zur Sicherstellung der Versorgung im Osten auf absehbare Zeit keinesfalls gebraucht wird. Um durchschnittlich 25 Prozent brach im vergangenen Jahr der Stromverbrauch gegenüber DDR-Zeiten ein, ohne jede bewußte Steuerung sank der Jahresverbrauch an Braunkohle von über 300 Millionen Jahrestonnen auf unter 240 Millionen — ein Ende der Talfahrt ist nicht absehbar, weil die inzwischen weitgehend stillgelegte stromfressende Industrie, wenn überhaupt, durch weniger stromintensive Branchen ersetzt wird.

Im Bereich der Privathaushalte — sie machen nach der Industrie den größten Batzen am gesamten Verbrauch aus — werden zwei gegenläufige Tendenzen erwartet, die sich künftig in etwa die Waage halten könnten: einerseits werden die Ostler (Aufschwung vorausgesetzt) ihren Nachholbedarf an elektrisch betriebenen Hausgeräten befriedigen, andererseits werden sie Strom sparen, wo es nur geht. Die nicht mehr subventionierte Elektroenergie ist inzwischen dreimal so teuer wie zu Honnis Zeiten.

Bleibt die Frage nach den Arbeitsplätzen vor Ort. Die Führungsetage der Energiewerke Nord in Greifswald und der Kernkraftwerk GmbH in Stendal wollen derzeit den Betroffenen weismachen, ein Neubau von Konvoi-AKWs werde die verbliebenen Arbeitsplätze auf Dauer retten. In Greifswald sicherte die Treuhand zur Untermauerung dieser Erwartung kürzlich sogar 3.000 Kurzarbeiter bis August 1992 (!) finanziell ab. „Rausgeschmissenes Geld“, schimpft der Reaktorexperte am Öko-Institut in Darmstadt, Michael Sailer, und belegt seine Überzeugung in einer ausführlichen Analyse der künftigen Entwicklung. Weil die westdeutschen Stromkonzerne die Haftung für die Greifswalder und Stendaler Altlasten fürchten wie der Teufel das Weihwasser, würden sie keinesfalls die derzeitigen Nachfolgeunternehmen des DDR-Atomkombinats „Bruno Leuschner“ übernehmen, sondern für den geplanten AKW-Neubau eigene Betreiberunternehmen gründen. Die wiederum würden — vorausgesetzt sie erhalten nach einigen Jahren die atomrechtliche Genehmigung — den Bauauftrag an Siemens/KWU vergeben. Die Erlanger Reaktorbauer ihrerseits würden einen Teil selbst bauen, einen anderen von Subunternehmern konstruieren lassen.

Für all das kämen, so Sailer, ausschließlich Fachkräfte und altbekannte, sprich: westdeutsche, Firmen in Frage, die „die Gewähr bieten, daß Zeit- und Kostenpläne sowie die erforderlichen Qualitätsanforderungen eingehalten werden“. Die neuen Betreibergesellschaften selbst würden zudem nach aller Erfahrung erst „zwei bis drei Jahre“ vor der Inbetriebnahme um das Jahr 2000 herum Personal einstellen, und zwar nur 300 bis maximal 500 Personen pro Block. Allenfalls einzelne (Fach- )Arbeiter, meint Sailer, würden nach ihrem „jahrelangen Gammeldienst“, der nicht gerade zur Qualifizierung gegenüber der West-Konkurrenz beitrage, auf einer Neubaustelle Greifswald oder Stendal einen Job finden.

Kommt es so, wie Sailer prophezeit, wird irgendwann der Kredit verspielt sein, auf den die westdeutschen Reaktorbauer und ihre politischen Freunde mit ihrer Fixierung auf die Altstandorte Greifswald und Stendal gerade setzen: das atomfreundliche Umfeld. Kleine, aber rührige Anti-AKW-Initiativen vor Ort arbeiten schon heute daran — wie man hört, mit wachsender Resonanz. Gerd Rosenkranz