Brief an einen Abwesenden

■ Napoleon Seyfarth-Hermann, Motor der Berliner Positiven-Organisation AGB+ und böser Geist der Aids-Hilfe, trauert um seinen Freund/ Ein Nachdruck aus der Februarausgabe der Positiven-Zeitschrift 'Virulent'

Tja, Reinhold — jetzt bist Du also tot.

Allzu lang war Dein Aufenthalt in der Klinik. Daß es zum Schluß doch noch so schnell gegangen ist, darüber sind wir beide doch froh, gell? Larmoyant waren wir beide ja noch nie. Und so waren unsere letzten gemeinsamen Tage trotz aller Tröpfe, Infusionen, Medikamente, Spritzen und Isolierstations-Atmosphäre eigentlich eine ganz witzige Zeit.

Waren wir beide schon immer hoffnungslos makaber, so blieben wir makaber — auch oder gerade in der Hoffnungslosigkeit. Weißt Du noch, wie wir uns Dein Totenbett vorstellten? Du, ganz in Leder, in einem Meer weißer Chrysanthemen versinkend, den Berliner Lederclub zur letzten Vollversammlung ladend.

Tut mir leid, daß daraus nichts geworden ist. Ich bin ja nun mal nicht im Lederclub, und meine finanzielle Lage verbot mir, Dir mehr als eine einzige Chrysantheme auf Deinen Weg in die Pathologie mitzugeben.

Apropos Pathologie. Daß Du obduziert werden solltest, erfuhr ich zwei Stunden vor Deinem Tod. Auf dem Flur. Von einer barmherzigen Schwester. Während der Arzt Dir drinnen den Morphium-Tropf anlegte. Eine der wenigen Drogen, die Du noch nie genommen hattest, war Morphium gewesen. Aber Du wolltest ja immer schon alles mal ausprobiert haben. Und so sah ich Dich beim letzten Mal, wie ich Dich beim ersten Mal, vor Jahren, kennengelernt hatte — im Rausch.

Wie versprochen, gaben wir tags darauf für Dich eine Abschiedsparty. Mit viel Champagner, Veuve Cliquot, Deiner Lieblingsmarke. Und einem kitschigen Totenlämpchen aus einer Devotionaliensammlung. Es stand in der Ecke wie Du, damals, vor sechs Jahren in der Knolle, leicht flackernd, und doch ein 40-Stunden-Dauerbrenner.

Die Reaktion der Gäste war, als wäre sie unserer zynischen Phantasie entsprungen. Die Nachricht Deines Todes löste die übliche, in Selbsterfahrungsgruppen erworbene Betroffenheit aus. Als aber die Nachricht von der Verhaftung des Haus- und Haschischdealers die Runde machte, gerierten sich die Schwestern gleich indischen Witwen, die ihrem geliebten Ernährer ins Nirwana folgen wollen.

Wir wußten ja schon immer, Reinhold, wie schwer den meisten der Umgang mit Krankheit und Tod fällt. Es ist ja auch nicht leicht, einen Mann wiederzusehen, dessen Körper man in der Sauna mit gierigem Verlangen hinterherlechzte; nun im Zimmer 115 der Isolierstation, einem Gerippe gleichend; der immer schon beachtliche Schwanz jetzt dicker als die Oberschenkel. Aber Du hast doch nicht im Ernst erwartet, daß die solidarischen Schwulen mit dem absoluten Zerfall umgehen können! Wo doch schon der relative Verfall in Form von Glatzen und Bäuchen in der die Schönheit und Jugend anbetenden Szene panische Reaktionen auslöst.

Nimm es also nicht so krumm, wie ich es tue, wenn die Besucher an Deinem Krankenbett so zahlreich waren wie die offenen Schwulen in Gelnhausen, dessen Tristesse Du vor zehn Jahren nach Berlin entflohen bist. Zumindest die letzten Stunden waren doch recht ordentlich. Unser letzter gemeinsamer Trip. Und Deine Augen leuchteten! Wie früher — in gewissen Situationen. Was, außer von Obduktionsresten, wird von Dir übrigbleiben?

Machen wir uns nichts vor! Die Scham Deiner Eltern über Deine Todesursache. Zumindest, solange die Nachbarn leben. Ein paar Anekdoten von Dir und über Dich. Zumindest, solange das Gehirn, das sie gespeichert hat, noch reproduktionsfähig ist. Bestimmt Dein Tisch-Staubsauger, den Du mir als Dein skurrilstes Haushaltsutensil vermacht hast. Am schnellsten verbraucht sind wohl die beiden Flaschen Poppers aus Deiner Erbmasse. Danke übrigens für den Gag mit dem Aufkleber: »Denk an mich beim Schnüffeln«. Ich habe es getan.

Einer Deiner letzten Wünsche wird wohl an der Friedhofsverwaltung scheitern. Denn diese Grabinschrift hätte Dich gewiß lange überdauert: Hier ruht Reinhold. Viele Fäuste und kein Hallelujah.

Bis demnächst, Dein Napoleon Seyfarth-Hermann