Porträt des Dichters als Lineal

■ Der amerikanische Romancier Harold Brodkey empfing im Literarischen Colloquium

Unwahrscheinliche Gerüchte ranken sich um den amerikanischen Romancier Harold Brodkey. Der Mann, der als Kind für zweihundert Dollar an ein kinderloses Ehepaar verkauft worden sein soll, besitzt heute den höchsten Intelligenzquotienten aller Einwohner der Vereinigten Staaten von Amerika. In seiner Schreibtischschublade, wird berichtet, wartet ein Roman von so ungeheuerlicher literarischer Qualität auf Vollendung, daß man den demnächst erscheinenden neunhundert Seiten starken Erzählungsband bloß als einen Appetizer betrachten darf. Nach diesem Roman, lautet eine bescheidenere Prognose, werde man in Brodkey den Musil des späten zwanzigsten Jahrhunderts erkennen. Manche Menschen sind der Meinung, Brodkey sei schon in der Erzählung Unschuld für die amerikanische Literatur gelungen, was laut Joseph Brodsky der Dichter Solschenizyn in der Krebsstation für die russische nur um ein Haar verfehlt hat: der entscheidende Durchbruch in eine Prosa, die kein Mensch mehr ertragen kann. Die Erzählung Unschuld ist der Bericht eines Beischlafs, der nach über fünfzig Seiten doch noch zum Orgasmus führt. Unschuld lautet das apodiktische Urteil der Literaturkritik, sei keine Pornographie, sondern Literatur. Souverän ist, wer über die Definition verfügt. Allerdings wird für diesmal der Laie den Berufslesern recht geben müssen.

Pornographisch dürfte sich die Erzählung nur nennen, wenn die Beischlafenden einen gewissen Spaß an der Tätigkeit jedenfalls vorgaukelten. Hier hingegen ist alles ganz und gar Schwerstarbeit. Man kann Brodkey nicht absprechen, daß ihm gelungen ist, den Leser nach fünfundzwanzig Seiten ans Ende seiner Kräfte zu schreiben. Von da an weiß er: entweder dieser Orgasmus gelingt, oder wir alle brutzeln auf ewig in der Hölle. Es handelt sich also um eine religiöse Botschaft.

Die bundesrepublikanischen Leser haben das längst erkannt. Überall, hört man, sei das Buch vollständig ausverkauft. Bei der jetzigen Lesereise des Autors habe man in Hamburg, Köln und Frankfurt Tausende von Menschen nach Hause schicken müssen, weil auch das letzte Stehplätzchen schon dreifach belegt gewesen sei.

Berlin war jetzt die letzte Station der Reise. Berlin sollte der Höhepunkt werden. Sicherheitsmaßnahmen wurden ergriffen. Aus Angst, ein erfolgloser Dichter könnte sich zu einem Attentat entschließen, verlegte man die Lesung vom Amerika- Haus ins weit entfernte Literarische Colloquium am Wannsee.

Die Berichterstatterin machte sich schon nachmittags auf den Weg, um nicht das Schicksal jener Massen zu teilen, die auf dem Absatz kehrt zurückgeschickt werden.

Aber welche Enttäuschung ereilte sie vor Ort. Was ist nur los in dieser Stadt? Will sie nicht hören? Kann sie nicht? Herrscht nur noch eitel Ignoranz und Analphabetentum? Kein Mensch stellt sich in den Weg. Die Sitzecken am Sandwerder sind lose mit Gästen bestückt. Ein paar lümmeln an der Theke herum. Der Verleger blickt gramvoll. Er hält die Anwesenden für die Abwesenheit der anderen für schuldig und herrscht die versammelten Nichtraucher an, mit dem Rauchen jetzt aufzuhören. Das Publikum reißt mehrere Fenster auf. Schließlich wird ein blankgeputzter Herr ans Podium geleitet. Sein Gesicht sieht aus, wie auf dem Reißbrett entworfen. Das perfekte Halbrund von einer Ohrspitze zur nächsten wird von den Augenbrauen wiederholt. Unter dem gepflegten Bart bilden Nasenspitze, Mundfalten und Kinnbreite ein makelloses, gleichschenkliges Dreieck. Dorthinein hat der liebe Gott mit dem Lineal den Mund gezogen.

Zur Rechten dieser einwandfrei gelösten geometrischen Hausaufgabe plaziert sich die Übersetzerin, zur Linken ein eigens zur Unterstützung hinbestellter schweizerischer Kollege. Jener spricht einleitende Worte über die Stirnnarbe des Autors und weshalb er einen Krückstock zum Gehen benutze. Zuletzt noch ein Wort zum Besonderen seiner Literatur. Es handele sich um »biographische Desillusionierungen, die sich wie tumorartige Polypen in alles reinfressen«. Der Autor schaut verdrießlich drein und scheint kein Wort verstanden zu haben. Sein Blick über den Brillenrand läßt keinen Zweifel: Mit dem, was gesprochen wurde, ist er im Leben nicht einverstanden.

Die Lesung nimmt dann ihren Lauf. Der Dichter murmelt amerikanische Sätze ins Mikrophon, von denen nun wieder das Publikum kein Wort versteht. Die Übersetzerin macht diese schöne Sinnlosigkeit leider zunichte. Sie läßt die unerreichbare Qualität ihrer Übersetzung in jedem Satz mitschwingen. Das Publikum ist maßlos eingeschüchtert. Ein paar großmaschige Winterpullover verlassen auf Zehenspitzen den Raum. Der Dichter eröffnet lässig das Gespräch. »Any questions, remarks?« Nichts dergleichen. Schweigen im Walde. »Does anyone like to throw money?« Offenbar wird er langsam unleidlich.

Im Publikum erbarmen sich zwei Damen. Warum er früher mal mit dem Schreiben aufgehört habe und dann wieder angefangen, will die eine wissen. Weil er gerne sitze, grummelt der gepflegte Herr in eine andere Richtung zurück. Die zweite Frage zielt ins Feministische. Warum das zwanzigjährige Mädchen nicht darunter leide, daß ihr Geliebter verheiratet ist. Der Dichter, der nebenbei auch an der Universität lehrt, sagt, zwanzigjährige Mädchen seien eben verschieden. Er kenne welche, die mehrere Affären mit verheirateten Männern zur gleichen Zeit gehabt hätten. Ob er die Welt für langsam halte, fragt schließlich noch der Kollege aus der Schweiz. So was können nur Schweizer fragen, sagt der amerikanische Freund. Der Mann hat Humor. Das Publikum lacht erleichtert und ruckelt mit den Stühlen. Wenn es sich jetzt beeilt, kommt es heil nach Hause. Gesenkten Blicks beginnt der Großteil seine Flucht ins Freie. Einige trauen sich nicht am Verleger vorbei, ohne ihr Unschuld-Exemplar mit zittriger Hand dem Dichter vorzulegen. Der stöhnt und gähnt und mag nicht mehr in Berlin sein. Hätte man ihn jetzt nach seinem Eindruck von dieser Stadt und ihren Lesern gefragt, er hätte wohl Edgar Allan Poe zitiert: »Nevermore. Nevermore. Nevermore.« Dose