Gegen das Vergessen

■ Barry Levinsons neuer Film „Avalon“

Barry Levinsons Filmographie ist das vielleicht überzeugendste Argument gegen die Lebensregel „You can't go home again“. Seine persönlichsten und zugleich besten Filme, Diner und Tin Men hat er in seiner Heimatstadt Baltimore gedreht. Avalon, als breit angelegte Familienchronik im Milieu russisch- polnischer Emigranten womöglich der Abschluß einer Trilogie, ist nach Levinsons letzten, eher kommerziell zugeschliffenen Arbeiten Good Morning, Vietnam und Rain Man eindeutig eine filmische Herzensangelegenheit des Regisseurs. Wenig verschlüsselt erzählt er die Geschichte seines Großvaters Sam Krichinsky (Armin Mueller-Stahl), der 1914 in die USA einwanderte, dessen Brüdern und ihren Nachfahren. Levinson feiert deren Familiensolidarität; erst einige Jahrzehnte nach der Ankunft der Einwanderer wird sie — da ist der Film ungemein lebensnah — aus einem nichtigen Anlaß auseinanderbrechen.

Familienfilme sind Ensemblefilme — für Levinson, der schon immer ein ebenso unaufdringlicher wie stilistisch eleganter Schauspiellerregisseur war, Grund genug, sein Bestes zu geben. Oder besser: seine Schauspieler ihr Bestes geben zu lassen. Armin Mueller-Stahl ist die einheitstiftende, vitale Kraft des Films, Joan Plowright spielt seine resolute Ehefrau. Lou Jacobi brilliert als Sams streitlustiger Bruder Gabriel, und selbst der bislang eher farblose Aidan Quinn kann in diesem Ensemble als Sams Sohn Jules bestehen.

Avalon erzählt eine rechtschaffen-idyllische amerikanische success story, freilich nicht ohne die europäische Gewitztheit und den engen Familienzusammenhalt verantwortlich zu machen für den Erfolg der Krichinskys, die sich in der zweiten Generation als „Kays“ und „Kirks“ assimilieren. Den amerikanischen Traditionen und Ritualen begegnen die Emigranten mit einer Mischung aus Begeisterung und Unverständnis („Das ganze Jahr über esse ich keinen Truthahn, warum soll ich es ausgerechnet an Thanksgiving tun?“). Die Feiertage, zunächst Anlaß der Familientreffen, werden später abgeklopft auf ihre Werbewirksamkeit und ihr Verkaufspotential. Die US- Flagge, in nahezu jedem Szenenhintergrund gegenwärtig, gerät Levinson allmählich zum Symbol für die Korruption des amerikanischen Traums, der sich nur noch im Verkauf erfüllt.

Das aufkommende Fernsehen spielt hier eine zentrale Rolle. Es ist überraschend, wie wenig der Film die Anfangsgründe und das „Goldene Zeitalter“ des Live-Fernsehens nostalgisch verklärt, denkt man an die witzigen und liebevollen Anspielungen aus früheren Filmen Levinsons. Er ist vielmehr ein melancholischer Abgesang auf die mündliche Erzähltradition, die mit der Schnellebigkeit der TV-Ära nicht mehr konkurrieren kann.

Die — manchmal einander widersprechenden — Erzählungen Sams geben dem Film seinen Rhythmus, als Perspektive hat er sich jedoch die seines Enkels Michael (Elijah Wood) ausgesucht. Der Prozeß des Erwachsenwerdens passioniert Levinson wie kaum einen zweiten Filmemacher seiner Generation. Dementsprechend unaufwendig-unaufgeregt entfaltet er seine Geschichte. Sie findet ihre dramatischen Höhepunkte in den Ereignissen, die aus einem sorglosen Kinderalltag herausragen: einer Zirkusparade, dem Angriff eines Bienenschwarms, einer möglichen Brandstiftung.

Wie alle Filme Levinsons stellt sich auch Avalon den formalen Herausforderungen eines period picture. Die kräftigen Kodachrome-Farben des Spielberg-Kameramannes Allen Daviau erinnern an die Farbfilme der vierziger und fünfziger Jahre. Die Rückblenden zur Ankunft Sams am Unabhängigkeitstag 1914 greifen gar noch weiter zurück: Die traumhaft langsamen Bewegungen der Akteure evozieren die Vorführgeschwindigkeit der Stummfilmära. Die impressionistische Montage Stu Linders und der sanfte Bewegungssog der unauffällig mobilen Kameraführung sind dem Gedankenfluß der Erinnerung ebenso verpflichtet wie die überaus sorgfältig gestaltete Tonspur. Die subtraktive Tondramaturgie setzt Akzente jenseits eines etwaigen Realismus, in vielen Szenen sind nur jene Geräusche, Worte und Musikklänge zu hören, die die Erinnerung ausgesiebt hat.

Am Ende, als Greis, muß der leidenschaftliche Erzähler Sam erkennen: „Wenn ich gewußt hätte, daß die Dinge so vergänglich sind, hätte ich mich besser an sie erinnert.“ Levinson ist Nostalgiker genug, um dafür zu sorgen, daß nichts der Vergessenheit anheimfällt. Sams Enkel besucht den alten Mann, zusammen mit dem Urenkel, im Altersheim, um ihm einmal mehr bei den alten Geschichten zuzuhören. Der kleine Junge lauscht den Erzählungen nur mit halbem Ohr, er sieht lieber fern. Als sie fortgehen, fragt er seinen Vater nach dem fremden Akzent des alten Mannes. Der sei nicht in Baltimore geboren, sondern 1914 in Amerika angekommen. Er setzt an, die Geschichte zu erzählen, die wir schon so häufig aus dem Mund Sams gehört haben. Der Enkel, vergessen wir es nicht, ist Barry Levinson. Gerhard Midding

Barry Levinson: Avalon, mit Armin Mueller-Stahl, Joan Plowright, Lou Jacobi, Aidan Quinn u.v.a. USA 1990, ca. 127 Min.