Der Zuschauer

Armin Mueller-Stahls Notizen zu den Dreharbeiten von Costa-Gavras' „Music Box“ und Barry Levinsons „Avalon“  ■ Von Christiane Peitz

In Music Box spielt er Mike Laszlo, einen ungarischen Nazi, der vierzig Jahre später als eingebürgerter Amerikaner behauptet, er sei es nicht gewesen. Ein liebenswürdiger Opa, ein Täter. Seine Tochter Anni (Jessica Lange) erreicht als Verteidigerin seinen Freispruch, aber am Ende weiß sie doch, daß er es war.

In Avalon, einer Familienchronik, spielt er Barry Levinsons Großvater Sam Krichinsky, einen polnischen Juden, der 1914 nach Baltimore auswanderte, nach Amerika als dem Gelobten Land. Für die Rolle wurde er noch älter gemacht als für Music Box.

Während der Dreharbeiten zu den beiden Filmen hat Armin Mueller- Stahl Tagebuch geführt: Er beobachtet sich selbst, seine Kolleginnen und Kollegen, entdeckt Amerika, liest in der Zeitung vom Fall der Mauer, bekommt Besuch, wird krank, lernt Baltimore-Jiddisch, geht ins Kino und ins Theater und erinnert sich an die Arbeit mit anderen Regisseuren. Vor allem aber denkt er nach über seine beiden Rollen: „Sam Krichinsky und Mike Laszlo gehören für mich zusammen. Faust und Mephisto. Mike Laszlo könnte Sam Krichinsky umgebracht haben. Habe ich Mike Laszlo mit dem Kopf gestaltet, so gestalte ich Sam Krichinsky mit dem Herzen — Kopf- und Herzgeburt.“ Sam Krichinsky mag er, Mike Laszlo haßt er: Auf die Dreharbeiten zu Avalon freut er sich, vor Mike Laszlo hat er Angst. Die „Kopfgeburt“ wühlt ihn viel mehr auf als die „Herzgeburt“; der entscheidende, aufregende Teil von Drehtage ist der zu Music Box.

Wie spielt man einen Nazi? „Aus dem Fahrstuhl kommend: Mike schlurft, er ist 69, die Furcht drückt ihn, gebeugt folgt er Anni. Die Schwierigkeit: Der Gang darf nicht ,angeschafft' aussehen, er muß zu Mike Laszlo gehören, der meine Statur, meine Gefühle, meinen Gang hat. Über allem steht die Glaubwürdigkeit. Ich habe mir für die ersten Szenen dicke Schuhe ausgesucht. In der Mitte des Films wird er Tennisschuhe tragen [...] und am Ende dünne Lederschuhe. Die Schuhe verändern nicht nur den Gang, sondern den ganzen Mann. Mit Tennisschuhen wird er sich stark fühlen, und mit Lederschuhen wird er etwas Tänzelndes haben, plötzlich wieder Nazi, spielend mit sich und seinen Opfern.“ Die Geschichte mit den Schuhen erzählt zunächst nur etwas über das Schauspielerhandwerk. Aber später, wenn er immer wieder auf das Problem zu sprechen kommt, wie er eine Figur möglichst glaubwürdig spielen kann, die er haßt, aber dennoch nicht denunzieren will, begreift man, daß die Schuhe mehr sind als ein Trick. Mike Laszlo ist ein Nazi, der behauptet: „Ich bin nicht dieses Ungeheuer.“ Mueller-Stahl spielt diesen Nazi in Distanz zur Rolle: Ich, der Schauspieler, bin nicht dieses Ungeheuer. In eben dieser Distanzierung gleicht er seiner Figur, und er weiß das. Beide leugnen etwas, beide spielen. Armin Müller-Stahl spielt einen Nazi, der spielt, daß er keiner ist. Der Unterschied: Mike Laszlo will, daß seine Zuschauer im Gerichtssaal das Gespielte nicht bemerken, Mueller- Stahl will, daß die Zuschauer im Kino es mitbekommen.

Das Schöne an Drehtage: Mueller-Stahls Überlegungen sind alles andere als prätentiös, moralisierend oder gar pathetisch. Sie sind praktisch, nüchtern, manchmal fast amerikanisch cool, aber nur auf den ersten Blick. Seine knappe, einfache Sprache ist oft persönlicher, intimer als das meiste, was ich bisher von Schauspielern gelesen habe. Nicht uneitel, aber ehrlich. Ein Art sanftes Sezieren. Er kommentiert nicht, er schaut zu, und immer sieht er Szenen. Zum Beispiel das Wetter: „Auf dem Michigan-See noch Eis, aber bereits in Auflösung. Beim Blick aus dem 29. Stock, auf die Stadt, auf den See, ein wunderbares Schauspiel. Der Michigan-See als Wetterküche. Wolkenbildungen. Die Spitze des Hancock ist von Wolken verpackt, daneben das Carlton-Ritz, fast gleich hoch, klar wie selten. Einige große Häuser sind einfach verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, andere wie gemalt, mit scharfen Konturen. Wetterschauspiel.“ Ein Reagan-Interview im Fernsehen. Ein nerviger Journalist. In einer Zeitschrift Honecker als tragischer Held, „hamletähnlich“. Manchmal nur Stichworte, ein Detail, das ihm auffällt, manchmal komplette Kurzgeschichten. Etwa die von dem Orchestermusiker auf dem Set, der vergeblich versucht, einen Nieser zu vermeiden: „Ein sich öffnender Mund, Augen und Kinn verschwinden, nun müßten die Nieser kommen. Aber nix. Die Augen, die langsam erscheinen, Kinn, das langsam erscheint, in Zeitlupe schließt sich die Öffnung.“ Zwölf, dreizehn Sätze lang zeichnet Mueller-Stahl die „Choreographie eines Niesers“ auf und ist traurig, daß keiner sie gefilmt hat.

Viele seiner Geschichten handeln von Paaren: etwa Volker Schlöndorff und Istvan Szabo. Szabo möchte Schlöndorff sprechen, aber Schlöndorff Szabo nicht. Also versucht der eine wie zufällig ins Blickfeld des anderen zu geraten, und der andere versucht genauso „zufällig“, ebendies zu vermeiden. Oder Wajda und Wicki. Zu Beginn der Arbeit an Eine Liebe in Deutschland mochten sie sich, am Schluß haßten sie sich. „Es ging wohl um die Götterposition. Wer ist der Größte im ganzen Land?“ Eine Szene am letzten Tag im Restaurant: „Komisch sahen sie aus. Wajda wie ein Vegetarier und Wicki wie ein Weinfaß ohne Beine. [...] Zwei Ikarusse — die Sonne schmolz ihre Flügel; sie nutzten die Gelegenheit nicht, sich zu versöhnen. Wajda klapperte mit der Gabel — und Wicki rülpste.“

Mueller-Stahl mag es, wenn zwei miteinander kämpfen. Nicht offen, sondern unausgesprochen. Ein Streit mit Costa-Gavras um einen gestrichenen Satz: kein Donnerwetter, eher ein atmosphärische Störung. Aber die malt er aus, daß einem angst und bange wird. Oder seine ersten Begegnungen mit Barry Levinson. Freundliche Treffs, Vorbesprechungen zu Avalon, der übliche Small talk. Aber Levinson hat die entscheidenden drei Worte noch nicht gesagt: „Let's do it.“ Und es wird noch Tage dauern: Suspense wie bei Hitchcock.

Drehtage enthält auch eine Liebesgeschichte. Wie die Kämpfe ist sie versteckt. Erst freut sich Mueller- Stahl einfach darüber, daß Jessica Lange eine angenehme, unkomplizierte Filmpartnerin ist. Dann, bei der Arbeit am Drehbuch, haben beide Hunger und trauen sich nicht, es Costa-Gavras zu sagen. „Eine merkwürdige halbe Stunde, in der wir uns intensiv mit dem Hunger beschäftigten aber so taten, als wären wir beim Drehbuch.“ Und plötzlich sagen beide gleichzeitig, daß sie Hunger haben. Ein paar Seiten später sitzt er im Schminkraum und hat ihr Hereinkommen nicht bemerkt. Er weiß nicht, wie er ihr einen guten Morgen wünschen soll: „Er ist wichtig, jedermann weiß, was aus einem nicht gesagten Guten Morgen alles werden kann: Kriege, Mord und Totschlag.“ Über die Arbeit vergißt er den „guten Morgen“, aber schließlich kommt Jessica, „stubst mich, ganz nebenbei, beinahe zaghaft gesteht sie... Ich umarme sie.“ Einmal sieht er sie von der Seite. „Das Licht der Lampe, neben ihr, halbierte ihr Gesicht, die linke Seite dunkel. Die Augen nach unten gerichtet, die Hände auf dem Buch [...] .“ Er versucht, sie zu zeichnen. Als sie es bemerkt, hört er auf. Er würde es nie zugeben. Aber daß die Kellnerin im Restaurant nicht bemerkt, daß sie Jessica Lange bedient, teilt er immerhin mit. Er schreibt nicht, daß es ihn ärgert. Aber er würde die Kellnerin nicht erwähnen, wenn es ihn nicht ärgern würde. Es ist wie bei einem guten Film: Nicht alles wird erklärt — und gerade das, was nicht zu sehen ist, macht den Reiz des Zuschauens.

Mueller-Stahls Sorge, seine Bewunderung, seine Verliebtheit — in einer Bemerkung projiziert er sie auf Costa-Gavras. Die drei schauen sich die Muster einer Dialogszene an: „Ein bißchen viel Anni, ein bißchen wenig Mike. Ich bin gespannt, wie Costa den Film schneiden wird. Nehme an, Anni — Jessica — wie Brot, in dicken Scheiben, Mike — Armin — wie eine Salami, dünn.“ Zunächst meint man, er sei eifersüchtig, weil er zu kurz kommt. Aber dann wird klar: Er würde den Film so schneiden, wenn er der Regisseur wäre.

Nach der Lektüre dieses Buchs wundert man sich, wieso es, angesichts so vieler schöner Szenen, so viele schlechte Filme gibt. Vielleicht besteht die Kunst nicht nur darin, diese Szenen zu drehen. Man muß sie vor allem sehen können.

Armin Mueller-Stahl: Drehtage. Luchterhand-Verlag 1991, 180 Seiten, 25 DM.