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PRESS-SCHLAGSo nicht, Udo!

■ Der unglaubliche Hymnenskandal von München

Natürlich, der Udo Jürgens. Der singende Sportexperte, er ist wieder unter uns. Mit Wehmut erinnerte sich so mancher Gehörgang an das großartige Wortspiel des Fußball-WM-Songs: Brenner, wir brennen. Koma, wir kommen. Unübertroffene Minimalprosa vom Allerfeinsten. Und weil er immer so griffig dahersingt, weil er immer genau den Solar plexus des Volkes trifft, deshalb wohl durfte er sie komponieren: Die Hymne zur Eiskunstlauf-WM. Was ihm ein großes Bedürfnis war, denn die seelische Verbindung zwischen ihm und den Eiskunstläufern sei eine enge, schließlich wären beide sinnliche Künstler: Profis mit einem Hang zum Kitsch.

So überzog er während der Eröffnungsfeierei kurzerhand 250 Darsteller, darunter auch einen faszinierend goldsilbrig schimmernden Norbert Schramm und die lachsrote Claudia Leistner, mit gänsehauterzeugendem Gewinsel. Und rund 4.000 Zuschauer rätselten, wann sie wohl kommen würde, die Hymne. „Laß uns gemeinsam auf die Reise gehen“, bettelte Udo, während sich auf dem Eis 16 kindliche Nymphen rund um ein Werner- Rittberger-Plagiat gruppierten. Nein, zu platt, das taugt bestenfalls zur Ouvertüre. Außerdem, Udo, Thema verfehlt: Eise, nicht Reise. Auf die Eise gehen, klaro?

Den Himmel auf Erden“, versprach er gleich darauf den Stuntmen der Paarlauflegende Ludmilla und Oleg Protopopov. Umsonst. Die Spannung stieg. 100 Jahre deutsche Eiskunstlaufgeschichte — unter vollkommener Vernachlässigung jedweder DDR- Entwicklung — tummelten sich da auf dem Eis, doch die Unruhe stieg. Wo bleibt die Hymne! „Zwischen Asche, Ruinen, Schutt und Stein“, versuchte uns Udo in die Irre zu führen. Um dann frech zu behaupten: „Wenn Eis zu Feuer wird.“ Dann, Udo, fällt die Eiskunstlauf-WM ins Wasser!

Doch langsam und schleichend kam man der Sache näher. Zwischen Dagmar Lurz und Claudia Leistner ließ Udo uns wissen: „Jeder Mensch braucht einen anderen.“ Eindeutiger Indiz in Richtung Paarlaufen! Aber eben nur Paarlaufen. Wieder nichts. So langsam machte sich eine gewisse Hymnen- Such-Müdigkeit breit. Schläfrig blätterten die Zuschauer im Programmheft, als sie plötzlich und unerwartet hochgerissen wurden. „Werde aufstehen, wenn ich zu Boden bin“, schmetterte Jürgens, „je tiefer der Fall, desto höher der Flug.“ 8.000 Ohren spitzten sich erwartungsvoll. Sollte es etwa...? „Wer nicht stürzt, wird sich nicht erheben“, nährte Udo die Hoffnung. Spätestens beim Kampfschrei: „Aufstehen mit einem ,Jetzt erst recht‘“ war es dem letzten klar: Die Hymne der Eiskunstläufer ist unter uns. Und in einem dramatischen Finish begab sich Herr Jürgens in die Höhen der tieferen Dialektik mit dem brillianten Antagonismus: „Wer nicht verliert, hat den Sieg nicht verdient.“

Da stand er also, Dichter Udo, mit weitgeöffnetem Mund, bereit uns alle zu umarmen, die wir ihm enthemmt zujubelten. Und wahrlich: Einmal mehr ist diese Hymne ein Meisterwerk an Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen. Quasi direkt aus der Seele des Daniel Weiss entnommen, der, wir entsinnen uns, die Europameisterschaft in Sofia auf dem Hintern absolvierte. Und wieder aufstand. Zutiefst befriedigt lehnten wir uns zurück und genossen. Doch just in diesem Zustand tiefster Entspannung traf uns der Verrat. Fanfaren ertönten, und schamlos kündigte Udo Jürgens die Welturaufführung der wahren Hymne an. Und bis wir recht begriffen, folgte ein intoniertes plastikhaften Kunstgebilde aus Orchester und Gewinsel. Einfallsreicher Titel: Wings of love.

Tiefes Entsetzen schob sich la- ola-artig durch die Ränge. Von wegen Einfühlung. Von wegen Beschäftigung mit dem Thema. Reine Kommerz. Pures Gefälligkeitsgesäusel. Grauenhaft. Aber nicht mit uns. Wir haben was gelernt. Aufstehen sollen wir, hast du gesagt. So erheben wir uns entsetzt und fordern: Gib uns die wahre Hymne! Und rufen dir zu: So nicht, Udo! miß

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