Pillen für gestreßte Abgeordnete

■ Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen protestierten gegen Sparmaßnahmen des Senates

Schöneberg. Pillen gegen Streßsymptome und andere phsychische Probleme — dieses Angebot wurde gestern den zur Plenarsitzung strömenden Abgeordneten vor dem Rathaus Schöneberg gemacht. Die MitarbeiterInnen von Kontakt- und Beratungsstellen hatten auch an ein Rezept für den Gesundheitssenator Peter Luther gedacht. Für alle anderen wurden Pillen gegen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und andere unangenehme Zeiterscheinungen bereitgehalten. Die meisten Abgeordneten hielten die Aktion, wie es einer ausdrückte, für einen »schlechten Scherz«. SPD-Landesvorsitzender Walter Momper lehnte dankend die Pillen ab. Er habe »eine gute soziale Bezugsgruppe und keine Probleme«.

Denjenigen, die auf die Kontakt- und Beratungsstellen angewiesen sind, geht es da weitaus schlechter. Zumindest, wenn die Einrichtungen wie geplant Finanzkürzungen hinnehmen müssen. Durch die elfprozentige Mittelkürzung des Senates sind viele Projekte in ihrer Existenz bedroht. Völlig unklar ist, ob nach dem Auslaufen der befristeten Zuwendungen im Juni erneut Gelder bewilligt werden. Auch Momper hält es nicht für günstig, gerade bei den Kontakt- und Beratungsstellen zu kürzen. Doch der Senat sieht sich in der Situation, den Mangel verwalten zu müssen. Ausnahmen bei einer generellen Kürzung zu machen, würde bedeuten, anderen Bereichen mehr Lasten zuzumuten.

Die Kürzungen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und anderen Trägern von psychosozialen Projekten, so deren Protest, gehe jedoch »völlig an der sozialen Situation dieser Stadt« vorbei. Angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen vor allem in Ost-Berlin befürchten die Projektträger, werden größere soziale Probleme zu bewältigen sein als bisher.

Die ungefähr 60 Projekte und Initiativen decken derzeit mit einer Senatszuwendung von 14 Millionen die ambulante Versorgung im psychosozialen Bereich ab. Sie umfassen alles von der Krisenberatung über die Suchthilfe bis zur Betreuung alter Menschen und mehr. Dabei arbeiten die Einrichtungen wesentlich kostengünstiger, als es im stationären Bereich möglich wäre. Zum Beispiel kostet der Gesamtetat einer Beratungsstelle pro Jahr nur etwa soviel wie drei stationäre Betten.

Schon jetzt sind Auswirkungen der Sparmaßnahmen in vielen Einrichtungen zu spüren. Die Krisenambulanz Wedding kann nur noch für sieben Stunden am Tag öffnen anstatt rund um die Uhr. Es muß befürchtet werden, so die MitarbeiterInnen, daß das bisherige Angebot nicht aufrechterhalten, geschweige denn ausgebaut werden kann. Dabei müsse in Ost-Berlin dringend ein Netz von Kontakt- und Beratungsstellen entstehen.

Noch immer leben dort knapp 4.000 Behinderte in Feierabend- und Pflegeheimen, abgeschnitten von der Außenwelt und ohne Rehabilitation. »Wenn die Einheit wirklich was bringen soll, dann müssen in Ost- Berlin auch moderne Konzepte Fuß fassen«, fordert der AL-Politiker Bernd Köppl. Man dürfe auf keinen Fall wieder zu Zuständen vor der Psychiatriereform zurückkehren, indem man psychisch Kranke in Kliniken abschiebt und mit Tabletten ruhigstellt. anbau