Untauglich für die Zerstörung

Isaak Babels Kriegsberichterstattung  ■ Von Marie-Luise Bott

Als Kriegsberichterstatter in Budjonnys Erster Reiterarmee führt er das russische Pseudonym Kirill Ljutow, der Grausame, und ist doch weder Russe noch grausam. „Ich bin natürlich Russe, die Mutter Jüdin.“ Das sind fromme Lügen eines bebrillten jüdischen Intellektuellen, um sich vor Antisemitismus und Hänseleien jenes russischen Mannsvolkes zu schützen, das im jüdisch-polnischen Galizien die Polen besiegen und Weltrevolution machen will.

Aber es hilft nichts: „Ich bitte einen Rotarmisten um ein Stück Brot, er gibt mir zur Antwort — mit Juden will ich nichts zu tun haben; ich bin ein Fremder, in langen Hosen, ich gehöre nicht dazu, bin einsam.“

Bevor Isaak Babel Erzähler wurde, war er Journalist. Gorki hatte ihm dazu geraten. „Sie wissen nichts, mein Herr, aber Sie ahnen vieles... Gehen Sie deshalb unter die Menschen.“

Bald darauf erschienen in Gorkis Zeitschrift Neues Leben 17 knappe Reportagen über den Revolutionsalltag Petersburg 1918, gezeichnet: Bab.-El. Dann wurde der junge Mann aus Odessa Soldat und ging mit 26 Jahren als Kriegsberichterstatter an die Südwestfront des russisch- polnischen Krieges.

1924 erschienen in Majakowskis Zeitschrift Lef die ersten Kurzgeschichten, die vollständig unter dem Titel Die Reiterarmee Babel 1926 berühmt machten. Daß diese Erzählungen auf seinem Kriegstagebuch, also authentischem Material, beruhten, hatte man immer gewußt. Aber erst jetzt wurde es „gefunden“. Auf Deutsch hat es Peter Urban mit einem Vorwort und sorgfältig kommentiert in der Friedenauer Presse als eines der schönen „Winterbücher“ herausgegeben.

So begann meine Besprechung von Isaak Babels Tagebuch 1920 im vergangenen November. Dann wurde der schon damals befürchtete Krieg am Golf eröffnet. Und der Blick änderte sich.

Der Leser von Babels Kriegstagebuch und der Leser der Zeitung dieser Wochen stellt sich dieselbe Frage und findet dieselbe Antwort. Was ist „gute“ Kriegsberichterstattung? Es sind nicht Wörter, nicht die Statements: hie Bush, hie Hussein und dazwischen die Nebelhörner der Deutschen. Nein, die einzig vertretbare Kriegsberichterstattung ist, so scheint es, die Gleichzeitigkeit der Bilder, die Collage, die Kontrastmontage, so wie sie in diesen Tagen die Titelseiten der Berliner 'tageszeitung‘ brachten. 8. Februar 1991: Eine Reihe jordanischer Jungen, das Gewehr im Anschlag, übt Schießen; ihnen gegenüber auf einem anderen Bild eine Reihe israelischer Mädchen, das Gewehr im Anschlag; darunter zwei schwarzamerikanische Marinesoldaten, die zum Vergnügen den „Gasmaskentanz“ vollführen; daneben zwei israelische Soldatinnen mit Gasmaske, die lernen, sich unter Plastikplanen zu bewegen. 11.Februar: zwei breit lachende Generäle aus dem amerikanischen Hauptquartier; daneben, frisch aus der Produktion, eine lange Reihe Rollstühle, die auf ihre zukünftigen Fahrer warten; darunter ein unter Schläuchen und Bandagen mit dem Leben kämpfendes Kind in einem irakischen Krankenhaus. (Alle Bilder stammten von der britischen Agentur Reuter.)

Isaak Babel zeigt schmutzige, geprügelte, wolhynische Bauern neben schweigsamen, ausgeplünderten, verfolgten Juden, verkommenen, syphilitischen russischen Soldaten, katholischen polnischen Grafen, entwürdigten, hingerichteten Gefangenen, gepeinigten tschechischen Bauern, menschenscheuen, armseligen Galiziern, sich selbst zerquält und „erbärmlich“ neben schwerfälligen, groben russischen und ruhmsüchtigen, haßerfüllten ukrainischen Kommandeuren, geselligen, pferde- und gesangliebenden, wilden Kosaken neben aufgedunsenen „kameradschaftlichen“ Schwestern, vergewaltigten jüdischen Mädchen, abgestochenen Kühen, verendenden Pferden, zerstörten Bienenstöcken, verwüsteten Gärten, Synagogen, Kirchen.

Die Sowjetkritik warf dem Autor der Reiterarmee eine „zu subjektive Sicht“ des Kriegsgeschehens vor. Ebenso wird es heute Leute geben, die die Bildmontagen auf Seite eins der 'tageszeitung‘ „einseitig“ nennen, die das gierige, sinnlose Zerstören gerne „interpretiert“, das heißt über einen (ihren) Kamm geschoren hätten.

Ein Atlantis schimmert aus Babels Tagebuch herauf: jüdisch, Galizien. Lemberg hieß das ferne, unerreichte Ziel, das sich Kriegskommandeur Stalin 1920 in den Kopf gesetzt hatte, statt den Truppen im Norden vor Warschau zu Hilfe zu kommen. Die Niederlage der Roten Armee war damit vorprogrammiert. Warum mußte es ausgerechnet Lemberg sein, das geistige Zentrum Galiziens? Ging am Ende schon dieser größenwahnsinnige „Privatkrieg“ Stalins auf seinen unbändigen Intellektuellenhaß zurück? Was Stalin 1920 nicht gelang, sollte dann Hitler 1942 vollbringen: die Vernichtung der kulturellen Blüte Galiziens.

Isaak Babel aber notiert mit größter Hingabe alles, was er vom jüdischen Leben in Galizien wahrnimmt. Im Gespräch mit den Juden geht ihm „das Herz auf“. Beim Anblick einer hebräischen Grammatik „schmerzt die Seele“. Er spricht „so gerne mit den Unsern“. Sein Fazit: „Unglückliche jüdische Bevölkerung, alles wiederholt sich, jetzt diese Geschichte — Polen — Kosaken — Juden — mit bestürzender Genauigkeit wiederholt sich alles, das Neue ist der Kommunismus“; „die Bevölkerung erwartet den Erlöser, die Juden die Freiheit — und geritten kommen die Kuban-Kosaken“; „wie wir die Freiheit bringen — schrecklich.“

Und obwohl Babel weiß, daß längst „alles verloren“ ist, hält er weiter seine Propagandareden, die er im Tagebuch bald „die übliche Leier“, bald „meine Märchen“ und zuletzt eine „Totenmesse“ nennt. Das ist die fatale Spaltung in Sagen und Denken: „Ich sage — ihr werdet Handelsfreiheit bekommen, alles wird sich zum Besseren wenden, in Rußland geschehen Wunderdinge — Schnellzüge, kostenlose Kinderspeisung, die Theater, die Internationale. Sie hören zu, voller Genuß und Mißtrauen. Ich denke — alles wird umgestürzt, alle wird es um- und umwälzen zum wievielten Mal.“

Babel glaubte an die Revolution. „Ich kann nicht aufhören, mich zu empören“, heißt es zu Anfang des Tagebuchs, „die Apathie und Hoffnungslosigkeit des russischen Lebens sind unerträglich, hier wird die Revolution etwas bewirken.“ Aber dann begreift er: „Das ist keine marxistische Revolution, das ist ein Kosaken-Aufstand“, „Anarchie“, „unsere Armee marschiert, um sich zu bereichern.“ Und er trauert „um die Geschicke der Revolution“. Später einmal wird Babel sagen, er glaube an „die Internationale der guten Menschen“.

Isaak Babels Tagebuch ist Skizze, Rohmaterial, wenngleich das eines Literaten. Ich ziehe die in vollen Farben ausgemalten Schrecknisse und Schönheiten in der Reiterarmee vor. Aber wer den Autor Isaak Babel besser erkennen will, der lese das Tagebuch, sein längstes Stück Autobiographie. Hier ist dokumentiert, wie ein quälender Riß durch ihn ging: Durch den russischen Revolutionär Ljutow brach sich der jüdische Schriftsteller Babel die Bahn, der seine kriegerische Chronistenpflicht über der schmerzlichen Liebe zur Tradition und den alten, „längst vergessenen Dingen“ vernachlässigt. Das Mitleiden und vermutlich auch das Gefühl der Mitschuld nahmen Babel in die Pflicht, jene Gleichzeitigkeit der Bilder so zu dokumentieren, daß sie unvergessen bleiben. Man nannte das später literarischen Erfolg.

In einem Brief vom 13. August 1920 schreibt Babel: „Ich habe begriffen, wie untauglich ich für das Werk der Zerstörung bin. Die einen werden die Revolution machen, und ich werde das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt.“

Isaak Babel: Tagebuch 1920 , aus dem Russischen und mit einem Vorwort von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin, 270 Seiten, gebunden, 35 Mark.