Rußlanddeutsche gespalten

■ Unheilige Allianz zwischen Hardlinern im Obersten Sowjet und deutschen Maximalisten

Rußlanddeutsche gespalten Unheilige Allianz zwischen Hardlinern im Obersten Sowjet und deutschen Maximalisten

Vorhang auf zum letzten Akt des Trauerspiels „Wiederherstellung der Deutschen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik an der Wolga“. Der Oberste Sowjet verbot zum zweitenmal — und diesmal in allerletzter Sekunde — den Kongreß der Sowjetdeutschen in Moskau. Knapp 1.000 Delegierte aus allen Teilen der Union wollten die seit Jahren unentschiedene Frage „autonome Wolgarepublik oder kulturelle Autonomie in den vorhandenen deutschen Siedlungsgebieten in Sibirien, am Ural oder Kasachstan“ verbindlich entscheiden. Die Debatte darüber versprach spannend zu werden: Beileibe nicht alle Delegierten der rund drei Millionen Rußlanddeutschen folgen den Hardlinern der deutschen Allunionsbewegung „Wiedergeburt“. Diese drohen mit der Alternative: entweder eine verbindliche Zusage des Obersten Sowjet über die Wiederherstellung der Wolgarepublik oder Massenausreise in die Bundesrepublik. Hunderttausende, vor allem in der Altai-Region, würden sich mit einer wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Autonomie zufriedengeben, wenn man sie nur lassen und nicht permanent behindern würde. Die Wiederherstellung der Wolgarepublik hätte für diese Menschen in erster Linie symbolische Bedeutung, wäre eine moralische Wiedergutmachung für all das Leid, das Stalin seit der Kollektivierungsphase über die Rußlanddeutschen gebracht hat. Die Wolgarepublik, so sagen sie, hätte die Bedeutung eines geistigen Zentrums, sie würden aber nicht ihre Koffer packen, um in Saratow oder Engels die Ärmel hochzukrempeln und den dort lebenden Nichtdeutschen den Platz streitig zu machen.

Diesen Deutschen aber bläst der Wind gleich aus zwei Richtungen ins Gesicht. Und dies ist die Schuld des Obersten Sowjet. Er hat eine produktive Auseinandersetzung über die Zukunft der Deutschen in der Sowjetunion verhindert. Trotz des kurzfristigen Verbots nämlich tanzte der Kongreß dennoch. Erschienen waren aber nur noch die orthodoxen Verfechter einer sofortigen territorialen und politischen Autonomie an der Wolga. Die Gemäßigten blieben zu Hause. In Moskau fand also ein Rumpfkongreß statt, der sich anmaßte, für alle Deutschen in der Sowjetunion zu sprechen. Und diese Delegierten, gut 500, ließen sich auf keine vermittelnden Positionen ein. Der „Kompromißler“ Hugo Wormsbecher wurde im Handstreich als Sprecher der Deutschen abgewählt, neuer Vorsitzender des Organisationskomitees der Sowjetdeutschen wurde Heinrich Groth, ein militanter Wolgaaktivist. Die Spaltung innerhalb der Deutschen in der Sowjetunion ist mit seiner Wahl vertieft worden. Wormsbecher und all die, die eine kulturelle Autonomie als Zwischenschritt zu einer territorialen begreifen, wurden als „Verräter“ beschimpft. So hat die staatliche Verbotsverfügung zweierlei bewirkt: Die militanten Verfechter einer Wolgarepublik werden die Sowjetunion verlassen, weil der eigene Staat nicht kommen wird. Die kompromißbereiten Deutschen werden ihre Siedlungsgebiete ebenfalls in Richtung Bundesrepublik verlassen, weil ihre Hoffnungslosigkeit durch die staatlichen Behinderungen gewachsen sind und sie innerhalb des organisierten Deutschtums isolierter sind denn je. Anita Kugler