Gemeinsam mit Russen an der Wolga

Der Kongreß der Sowjetdeutschen erklärt die Autonome Wolgarepublik für de jure fortexistierend/ Steckt Gorbatschow selbst hinter der Absage des Kongresses „von oben“?/ Sechs Monate Moratorium  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der außerordentliche Kongreß der Sowjetdeutschen in Moskau verabschiedete am Mittwoch abend eine Deklaration, in der er die Autonome Wolgadeutsche Republik als de jure existierend bezeichnete und die faktische Wiederherstellung der Republik in den alten Grenzen noch in diesem Jahr forderte. In dem Dokument heißt es, die Zeit der „Glasnost“ habe den Sowjetdeutschen nur die Möglichkeit gegeben, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Die historische Erfahrung in der Sowjetunion lehre, daß Völker ohne eigenes staatliches Territorium in diesem Land zum ethnischen Aussterben verurteilt seien. Die Liquidierung der Republik sei antikonstitutionell und somit ungültig gewesen. Der Neugründung solle ein Moratorium von sechs Monaten vorausgehen, während derer man alles tun wolle, um eine gedeihliche Atmosphäre unter der russischen Bevölkerung im Wolga-Gebiet zu schaffen. In dieser Phase solle ein paritätisch von Sowjetdeutschen und russischen Bewohnern der Region gebildeter Sowjet die Legislative übernehmen. Auch später wolle man bei den Regierungsorganen das Paritätsprinzip beibehalten. Russisch und Deutsch sollten als gleichberechtigte Amtssprachen konstitutionell garantiert werden. Die Autonome Republik der Wolgadeutschen müsse in Zukunft, wie auch in der Vergangenheit, ein „unveräußerlicher Bestandteil Rußlands“ bleiben.

Der Moskauer Kongreß hat sich für repräsentativ erklärt, da ihm bereits über die Hälfte der gewählten Vertreter angehörten und stündlich neue Deputierte eintreffen, die an sein Zustandekommen nicht mehr geglaubt hatten. Im Namen der „Führung des Landes“ hatte das eigentlich zu seiner Durchführung gebildete Organisationskomitee den lange für den 11. März geplanten Kongreß der Sowjetdeutschen kurzfristig abgesagt. Den Verdacht, daß sich hinter dieser ungewöhnlichen und unklaren Bezeichnung möglicherweise nicht der Ministerrat verberge, sondern Präsident Gorbatschow selbst, erhärtete sich am Mittwoch abend in einem Fernsehinterview mit dem Vorsitzenden des Kommitees, Boris Rauschenbach. Er, Rauschenbach, sei der Ansicht, daß man einen Kongreß der Sowjetdeutschen ohne ein vorhergehendes Treffen mit dem Präsidenten des Landes „nicht einberufen darf“. Nur der Präsident könne die Anweisungen erteilen, die zur Wiederherstellung der Staatlichkeit der Sowjetdeutschen notwendig seien. Der gegenwärtig tagenden Versammlung sprach er demgemäß die Bezeichnung „Kongreß“ ab, man könne hier höchstens von einem „nationalen Meeting“ sprechen. Auf die Frage, wann denn dann der „Kongreß“ stattfinden könne, antwortete Rauschenbach, dies hänge vom Präsidenten ab. Als einzige der zentralen Tageszeitungen kommentierte am Donnerstag die 'Iswestija‘ das Geschehen: „Wirklich, man hat sich schon ganz schön bemühen müssen, um soviel Unorganisiertheit, Formalismus und Gleichgültigkeit zu produzieren, um sogar diese als ruhig und diszipliniert bekannten Menschen aus der Fassung zu bringen... und eine gereizte Atmosphäre selbst dort zu erzeugen, wo man sie scheinbar am wenigsten hätte erwarten sollen.“ Aber auch die Spaltung zwischen Anhängern und Gegnern des Rumpfkongresses bringt den Sowjetdeutschen, so schwant der 'Iswestija‘, nichts Gutes. Der außerordentliche Kongreß habe die elementarsten Regeln nicht beachtet, die das sowjetische Gesetz fordere.