„A wie Anfang“ — Werben um Bildungswillige

Ein Bericht aus dem zentralen Arbeitsamt für die ehemalige DDR/ 330.000 könnten in diesem Jahr Weiterbildungskurse belegen, aber Arbeitslose haben keinen Bock auf Weiterbildung/ Bonn will Kurzarbeitergeld für Bildungsunwillige kürzen  ■ Von Anke Wienand

Der Weg zu dem grauen Hochhaus ist steinig, spitzer Schotter macht das Gehen zur Qual. Dennoch hasten an diesem kalten Märztag Hunderte Menschen in den labyrinthartigen Gebäudekomplex, in dem früher die Staatssicherheit saß. Jetzt künden Plakate von einem neuen Hausherrn: „A wie Anfang, Ansprechpartner, Ausbildung“, steht in großformatigen Lettern an der Mauer geschrieben. Das Arbeitsamt und die Zentrale Arbeitsverwaltung für die neuen Bundesländer, die hier in Berlin-Lichtenberg vor Monaten einzogen, werben schon vor den Eingangstoren um Bildungswillige aus den Ost-Ländern.

Die Stimmung auf der Straße ist gedrückt. Ernüchterung statt Euphorie ist angesagt. Zwar hätten „alle irgendwie gewußt“, daß es viele Arbeitslose geben werde, sagt die Sprecherin der Zentralen Arbeitsverwaltung, Gabriele Endert-Reinhardt. „Aber alle haben gedacht, es trifft nur die anderen. Jetzt, wo es einen selbst trifft, da ist es doppelt hart.“

Gab es zum Ausgang des Vorjahres rund 642.000 Arbeitslose, waren zwei Monate später — so die Statistik von Ende Februar — schon knapp 787.000 Männer und Frauen im Beitrittsgebiet ohne Arbeit, was einer Erwerbslosenquote von 8,9 Prozent entspricht. Ein Vielfaches mehr — rund 1,9 Millionen Ostdeutsche — arbeiteten null Stunden, auf neudeutsch „kurz“. Im Vergleich zur Dezembermitte, als etwa 740.000 Beschäftigte Arbeitsausfälle von 50 bis zu 100 Prozent zu beklagen hatten, stieg deren Anteil bis Mitte Februar auf über eine Million — eine Steigerung von 41 Prozent auf 54 Prozent aller „Kurzarbeiter“.

Im Rahmen des „Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost“ wird auch die besondere Regelung für ostdeutsche Kurzarbeiter, die ursprünglich mit dem tariflichen Kündigungsschutz zum 30. Juni diesen Jahres auslaufen sollte, in den neuen Bundesländern um ein halbes Jahr verlängert. Für die Betroffenen heißt dies im Klartext: Anders als im Westen wird die Leistung von 63 Prozent vom Nettolohn für Ledige und 68 Prozent bei einem Kind im Osten auch dann gezahlt, wenn abzusehen ist, daß der Arbeitsplatz auf Dauer nicht erhalten bleibt.

Zur Lösung des Arbeitsmarktproblems setzen Bund und Arbeitsämter gleichzeitig aber immer stärker auf berufliche Qualifizierung. Aus- und Fortbildung, aber auch Umschulungen seien das Gebot der Stunde, um sich auf die sich ändernden beruflichen Anforderungen einzustellen.

Die Marschroute der Behörde wird durch eine jüngst veröffentlichte Studie der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. Berufliche Bildung sei als Alternative zu Entlassungen und Arbeitslosigkeit zu sehen, heißt es in dem Papier des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Für Mitarbeiter von schrumpfenden Branchen — dazu zählen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die Land- und Forstwirtschaft, Chemie und Bergbau, Textil-, Ernährungs- und Bekleidungsgewerbe — böten sich Umschulungen an. Arbeitnehmer aus expandierenden Branchen wie Handel-, Kredit-, Versicherungs-, Hotel- und Gaststättengewerbe sowie Beratungsdiensten und anderen Dienstleistungen sollten dagegen eher auf Fortbildung setzen, meint das Nürnberger Institut.

Ganz in diesem Sinne läuft das Qualifizierungsprogramm für die ostdeutschen Länder auf Hochtouren. Im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit stehen derzeit Mittel für durchschnittlich 330.000 Teilnehmer in diesem Jahr bereit. „Eine wahnsinnig hohe Zahl“, kommentiert Sven-Okke Struve aus Schleswig-Holstein, der die Aufbauarbeit hier „leihweise“ unterstützt. Im alten Bundesgebiet gebe es z.B. nur 155.000 solcher Bildungsplätze mit voller finanzieller Förderung.

Die Voraussetzungen für die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen sind für alle gleich: Die Maßnahme muß anerkannt sein und die Vermittlungschancen verbessern. Antragsteller müssen in der Regel vor der Teilnahme über drei Jahre lang eine beitragspflichtige Tätigkeit ausgeübt haben. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, werden die Kosten meist voll übernommen. Die Kurse dauern zwischen zwei Wochen und zwei Jahren.

Trotz des mittlerweile alle Branchen umfassenden regionalen Angebots ist die Nachfrage immer noch schleppend. Viele ostdeutsche Arbeitslose oder von Erwerbslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer reagierten zunächst „mit Abwehr“, sagt Frau Endert-Reinhardt. „Die Einstellung, ,warum sollte ich nochmals die Schulbank drücken, ich hab doch schon genug gelernt‘, bestand — und besteht — noch immer.“

Dabei zeigten jedoch insbesondere kurzarbeitende Beschäftigte immer noch wenig Bereitschaft zur Weiterbildung. Grund dafür sei nicht nur die vermeintliche Sicherheit, noch einen Job zu haben. Die Zurückhaltung vieler werde vor allem von der Angst bestimmt, bei der Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme die Aussicht auf Vollbeschäftigung im eigenen Betrieb zu verlieren. Angesichts der sich zuspitzenden Situation auf dem Arbeitsmarkt will die Bonner Regierung jedoch nicht einfach abwarten, bis die Bereitschaft der Einzelnen wächst. Kurzarbeitern mit mindestens 50prozentigem Arbeitsausfall sollen künftig vorrangig Maßnahmen beruflicher Qualifizierung offenstehen. Wer die Teilnahme ohne wichtigen Grund ablehnt, dem kann das Kurzarbeitergeld für zwei Monate gesperrt werden.

Im Februar begannen etwa 45.500 Menschen eine Fortbildung, Umschulung oder betriebliche Einarbeitung. Zwar gebe es auch bei einer beruflichen Qualifizierung keine Garantie auf einen sicheren Arbeitsplatz, meint Struve. Aber wer sich schon jetzt auf den steinigen Weg mache, der gehe zumindest der Zukunft entgegen. dpa