Heute ist es ein Jammertal

■ Raubbau bewirkte das Erdbeben von Völkershausen/ Expertengutachten verschwanden/ Wiederaufbau brachte neue Zerstörungen

Dem politischen Beben in der DDR Herbst 1989 ging im Frühling desselben Jahres im Südwestzipfel des Landes ein terrestrisches voraus. Die Katastrophe vom 13. März war nach Expertenmeinung das bislang größte von Menschenhand künstlich ausgelöste Erdbeben. Die Rhöngemeinde Völkershausen am Fuße des Oechsenberges lag direkt über dem Epizentrum. Sie wurde von dem sogenannten Gebirgsschlag an jenem 13. März, der sich nun zum zweiten Mal jährt, am stärksten betroffen. Rund 80 Prozent der Bausubstanz wurden bei den Eruptionen mit einer Stärke von 5,5 Punkten auf der Richterskala zerstört oder beschädigt. Ein Ende ist bislang nicht abzusehen, denn die Erde ist weiter in Bewegung, wenn auch deutlich langsamer. Inzwischen in aller Eile Neugebautes zeigt Risse. Die Natur hatte sich innerhalb weniger Sekunden für einen schleichenden jahrzehntelangen Umweltkrieg, den die DDR-Wirtschaft vornehmlich im Bergbau, in der Energiewirtschaft und in der Chemieindustrie führte, gerächt. Ursache der schweren Erschütterungen war Raubbau in den Kaligruben im Werrarevier. Mit Kaliprodukten ließen sich schnell dringend benötigte Dollars machen. Der Staat verlangte von den Bergleuten überdurchschnittlich hohe Förderquoten. Die Bergsicherheit hielt nicht Schritt. Die DDR- Führung vernebelte diese Wahrheiten, die in den ersten Schreckensstunden der Tragödie durchaus beim Namen genannt wurden, systematisch. Unbequeme Expertengutachten verschwanden. Um so unglaubhafter klang den Völkershäusern die vom SED-Politbüro offiziell verkündete Mär, daß von den in der Nähe gelegenen hessischen Kaliwerken im Erdinnern verpreßten Laugen das Deckgebirge und Tausende Stützpfeiler in den Gruben des benachbarten Thüringer Reviers zum Einsturz gebracht haben sollten. Einwohnerversammlungen fanden nicht mehr statt, weil sich auf den Zusammenkünften unmittelbar nach der Katastrophe gewaltsame Ausschreitungen und Exzesse gegen Funktionäre aus Politik und Wirtschaft anbahnten. Die Menschen hatten sich ohnehin viel mehr um ein neues Obdach und die Rettung ihrer verbliebenen Habseligkeiten, weniger um Ursachenforschung zu kümmern. Zeitweise wurde eine vollständige Evakuierung der 3.500 Dorfbewohner diskutiert. Experten und Einheimische hatten an kaum vermuteten Stellen Erdspalten und —stauchungen geortet. Nirgends gab es zunächst bebaubares Land. Jedoch mußte es gefunden werden, weil in Berlin ein rascher Wiederaufbau von Völkershausen und der zahlreichen anderen mitbetroffenen Rhönorte beschlossen worden war. Getragen von einer Welle ehrlichen Mitgefühls und großer Hilfsbereitschaft begann der Aufbau. Nie zuvor konnten DDR-Bürger im eigenen Land, so lebensnah Solidarität üben. Der Ort war von Helfern, Baumaschinen und Schaulustigen überschwemmt. Manches, was das Beben in dem ehemals romantischen Fachwerkdorf verschont hatte, wurde von einer gigantischen, in den engen Dorfgassen aneckenden Maschinerie niedergerissen. Bis heute ist umstritten, ob die zwar schwer gezeichnete, der Schutzpatronin der Bergleute — der heiligen Anna — geweihte Kirche gesprengt und abgerissen werden mußte. Sie behindere den Neuaufbau, hieß es, also fiel das unter Denkmalschutz stehende Bauwerk. Auch darüber befand letztlich die Berliner SED-Zentrale. Es wurde auf Bautempo gedrückt, denn zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 sollte das angeblich von westlichen Kalikonzernen zerstörte Völkershausen „schöner denn je“ neu erstanden sein. Eine genaue Schadensanalyse fehlt noch immer. Die Versicherungen sind verunsichert. Die Kaligruben als Hauptarbeitgeber machen dicht. Arbeitslosigkeit grassiert. Die thüringische Rhön ist auf dem Weg, wieder Armenhaus Deutschlands zu werden. Das erste Signal für die Außenwelt setzte bereits der Bürgermeister des von Völkershausen wenige Kilometer entfernten Städtchens Dermbach. Er schloß demonstrativ sein Amt wegen Bankrott der Kommune. Matthias Günkel (adn)