Stadt, Land, Buch

■ Alte, mittelalte und neue Berlin- und Brandenburg-Bücher

Der Mensch braucht Orientierung, Identifizierung und historische Verankerung. »Führern« gehen die Orientierungswilligen nach, sobald bedrucktes Papier ihren Weg auf unbekanntem Terrain leiten soll. »Stadt-Geschichtsbücher« benutzen die Leute, falls sie wissen wollen — na ja, nicht unbedingt wo sie herkommen, (doch leider meist aus Saarbrücken, Stuttgart oder Sebnitz) und auch nicht wo sie hin gehen (Klar: nach New York! Ansonsten: »Sind wir nicht immer auf dem Weg irgendwohin?«), aber vielleicht, worauf sie gerade stehen, und wer oder was zuvor auf diesem kleinen Fleck war. Und schließlich lesen die Feinsinnigen gern »Weltliteratur«, die in ihrer Heimat spielt — wo die Buchstaben funktionieren wie die Kreuze, die auf Urlaubspostkarten die Stelle bezeichnen, an der man selbst Teil des schönen Gefüges wird.

Wander-, Rad-, Auto-, S-Bahn- und gar Zug-Führer, Stadt-Geschichtsbücher und Weltliteraturneuauflagen respektive Mischungen mit veränderlichen Gewichtsanteilen dieser Elemente gibt's für Berlin und Brandenburg besonders seit der Maueröffnung zuhauf. Einige (wenige) wurden gesichtet vonGabriele Riedle

Zweimal Wedding

Die Historische Kommission zu Berlin hat beim Nicolai-Verlag einen neuen Band in ihrer Reihe Geschichtslandschaft Berlin — Orte und Ereignisse herausgebracht. Nach jeweils zwei Publikationen über Charlottenburg und Tiergarten nun der Wedding. In gewohnt gründlicher Manier bearbeiten auch hier wieder verschiedene Autoren und Autorinnen nacheinander Orts- und Ereignisgeschichte eines der Innenbezirke der alten Reichshauptstadt. Wie schon der Band über Moabit, so ist auch der über den Wedding vor allem geprägt durch Sozial- und Industriegeschichte. Schließlich ist die Geschichte des Weddings seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geschichte des »Armenhauses von Berlin« und der hilflosen Bekämpfung von dessen Folgeerscheinungen. Zuerst z.B. mittels Kirchenbau gegen Immoralität, später durch eine große Zahl von Wohlfahrtseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Altenheime und Stifte oder Obdachlosenasyle.

Hier gab es das erste Mietspekulationsobjekt und expandierende Industrie, vor allem Eisen- und Metallverarbeitung, später auch Elektrotechnik und Chemie. Vorherrschende Bauform war schon früh die Mietskaserne, vorherrschende politische Orientierung die Sozialdemokratie. Bald brauchte der Wedding nicht nur die Gemeindeschule und — für »etwas Landluft in der städtischen Asphaltatmosphäre« — Kleingartenanlagen und schließlich den Volkspark Rehberge, dessen Sümpfe trockenzulegen potentiell revolutionäre Arbeitslose herangezogen worden waren. Schon 1879 ist sogar der Friedhof vollständig belegt, weshalb 1909 eine Urnenhalle und 1911 ein Krematorium eingerichtet wird, obwohl die Feuerbestattung in Preußen bis dahin abgelehnt wurde.

Der Band Wedding illustriert die Geschichte all dieser Einrichtungen (und noch weiterer, wie z.B. die des Rudolf-Virchow-Krankenhauses, des Jüdischen Krankenhauses, des Luisenbades, der Technischen Fachhochschule aber auch von AEG und Schering etc.) mit reichlichstem wunderbaren Bildmaterial, das fast schon für sich den Preis von 48 DM lohnt.

Nur 19 DM kostet der in der Reihe mit dem gräßlichen Titel Berlin Tour im Stattbuch-Verlag von Stattreisen e.V. herausgegebene Band Wedding — Wege zu Geschichte und Alltag eines Berliner Arbeiterbezirkes. Auch hier stellen verschiedene Autoren und Autorinnen die Geschichte einzelner Orte dar. Schering, Krematorium, AEG, Schrippenkirche, Jüdisches Krankenhaus, Humboldthain usw. tauchen auch hier wieder auf. Die Herangehensweise ist jedoch anders als die der Historischen Kommission. Denn schließlich will man potentiellen Stadtspaziergängerinnen Material für eigene Erkundungstouren in die Hand geben, weshalb die Beiträge entsprechend fußgerecht zu verschiedenen jeweils zwei- bis dreistündigen Routen angeordnet sind. Ergänzend kommen überdies Kiez- und Basisstätten hinzu, wie das Nachbarschaftshaus Prinzenallee, die Fabrik Osloer Straße und die Jugendfreizeitheime in den innerstädtischen Sanierungsgebieten.

Mehr Berlin-Touren

Ebenfalls von Stattreisen e.V. im Stattbuch-Verlag gibt es noch vier weitere Titel in Sachen Stadt und schließlich auch Landerkundung in derselben Reihe: Berlin Quer — Eine Rundfahrt auf Abwegen zwischen Funkturm und Brandenburger Tor mit relativ kurzen, aber brauchbaren Texten zu fast hundert verschiedenen, durchaus nicht abwegigen Orten, inklusive Dokumentation von zeitgenössischen Affären und Skandalen (z.B. Stichwort Bauskandal, Antes-Affäre etc. s. »Lietzenburger Straße«). Ferner gibt es noch Die Kulturmeile — Ein Spaziergang zwischen Botschaftsruinen und Kunsttempeln in Berlins Altem Westen und neuestens Ganz Berlin Ost, was wahrscheinlich der erste, nichtoffizielle stadthistorische Führer für Ost-Berlin ist und sich recht alternativ gibt, nämlich in die Hinterhöfe, besetzten Häuser (Tacheles), mittlerweile auch teils schon wieder abgewickelten Kultureinrichtungen und Cafés geht.

Brandenburg

Schließlich ist in dieser Reihe im Staatbuch-Verlag noch Land um Berlin erschienen. Es ist etwas umfangreicher als das sehr ähnliche Rund um Berlin aus dem Verlag Schelzky und Jeep. Letzteres enthält elf (Auto-)Fahrten, die sich in meinem persönlichen Härtetest alle als gut beschrieben und von den Zielen her als lohnend erwiesen haben. Wie dieses, so bezieht sich auch Land um Berlin auf das ganze Brandenburg zwischen Spreewald und der Uckermark, Oderbruch und Fläming. Hier gibt es allerdings noch »Extratouren« mit spannenden Straßenbahnfahrten von Brandenburg-Stadt nach Plaue, Radtouren von Werder zum Kloster Chorin oder Fußwanderungen von ebendort zum Dorf Chorin etc. Übrigens einer der wenigen Gänge ohne historische Buchvorlage.

Fontane-Wandern 1

Denn eigentlich wandert man nicht mehr ohne: z.B. nach Königs Wusterhausen geht's nur noch mit Theodor Fontane. Wobei dieser wiederum mit den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth, der Lieblingsschwester Friedrichs des Großen ging: »Ich war wohlweislich nicht ohne dies Buch aufgebrochen (das, wenn man so will, der ‘älteste Fremdenführer von Wusterhausen‚ ist), und las wie folgt: ‘Mit unsäglicher Mühe hatte der König an diesem Orte einen Hügel aufführen lassen, der die Aussicht so gut begrenzte, daß man das verzauberte Schloß nicht eher sah, als bis man herabgestiegen war. Dieses sogenannte Palais bestand aus einem sehr kleinen Hauptgebäude, dessen Schönheit durch einen alten Turm erhöht wurde, zu dem hinauf eine hölzerene Wendeltreppe führte. [...] Wie auch das Wetter sein mochte, wir aßen zu Mittag immer im Freien unter einem Zelte, das unter einer großen Linde aufgestellt war. Bei starkem Regen saßen wir bis an die Waden im Wasser, da der Platz vertieft war. [...] In Berlin hatte ich das Fegefeuer, in Wusterhausen aber die Hölle zu erdulden.‚« Fontane fragte sich damals: »Ist dies dasselbe Wusterhausen, von dem wir jene klassische, aber freilich wenig schmeichelhafte Beschreibung haben...?«

Und wir wackeren, gebildeten Wandersleute fragen uns heute ganz entschieden mit Fontane wieder »Ist dies dasselbe Wusterhausen...« mit seinen abgewickelten Handelsorganisationsidyllen und jetzigen Imbißoasen? Aber bitte: Es hat ja durchaus der historische Vergleich aus der Serie Erst-Fontane-und-dann-ich sein müssen. Was übrigens der Fontaneschen Fußreiseprosa keinen Abbruch tut! Aber bitte: Wir nehmen eine der Ostausgaben z.B. seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg z.B. vom Aufbau-Verlag!

Fontane-Wandern 2

Die giftgrünen abwaschbaren »Kompass«-Wanderführer kennen viele noch als Kinder-Foltervorlage für sonntagswanderwütige Westeltern. Aber, wir gestehen, ohne rote Kniestrümpfe und braune Cord-Kniehosen entwickeln wir aufs Alter ja durchaus wieder eine gewisse Affinität zum Fußmarsch durch die Landschaft. Nicht wahr, meine lieben Mitszenistinnen?! Bei »Kompass« gibt's jedenfalls für 19,80 DM den Wanderführer Mark Brandenburg — 40 Wanderungen auf den Spuren Theodor Fontanes. Da dies die 3. Auflage seit 1979 ist, bezieht sich der Vorwanderer, ein veritabler Albrecht von Hardenberg, auf Fontane schon kalterkriegshalber. Er zitiert: »Wer in der Mark reisen will, der muß zunächst Liebe zu Land und Leuten mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muß den guten Willen haben, das Gute zu finden, anstatt es durch krittliche Vergleiche tot zu machen.« Aber jetzt, wo's nix mehr zum System-Vergleichen gibt, sondern auch in der Mark der Kapitalismus reinkultiviert wird, hätte sich also auch dieser Fontane-Anteil an dem Wanderführer erledigt. Mal abgesehen davon, daß natürlich immer dazugesagt wird, wo ER schon vor uns war, und ER war bekanntlich überall.

Ansonsten sehen die Beschreibungen recht vertrauenerweckend aus, (das eklige Kniebundhosenfoto wegen Versicherungswerbung auf der Rückseite sollte man allerdings überkleben) mit detaillierten Kartenzeichnungen und genauer Angabe der Weglängen, der Entfernung von Berlin und des Grenzübergangs, d.h. der nunmehr zu wählenden Ausfallstraße, denn der Kompass-Wander- Familienvater ist motorisiert. Jede Wanderung beginnt deshalb an einem »freien Platz, wo wir unser Auto abstellen können.«

S-Bahn

Jauchzen und Frohlocken ruft die Bibel S-Bahn Berlin — Der neue Triebzug ET 480 aus dem Hestra-Verlag hingegen bei wirklichen und wahren S-Bahn-Liebenden hervor. Herausgeber sind diverse Herren zwischen BVG, Waggon-Union, Siemens und AEG-Triebwagenabteilung. Der Preis spielt keine Rolle: Für Unwissende ist er in jedem Fall zu hoch, Wissende hingegen würden alles bezahlen. In Wort, Bild und Sinus-Kurven wird alles, aber auch alles, was die Berliner S-Bahn in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft, erschöpfend dargestellt. Hier ein Schaubild mit »Anfahrkennlinien für maximale Zugkraft bei 800 V Netzspannung«, dort ein Farbfoto des Führerraums der Serienzüge, hier ein Text über den Bahnhof Friedrichstraße vor, während und nach der Existenz der Mauer mit schönen scharzweiß Aufnahmen von merkwürdigen Zügen, dort die vielen Erinnerungsbilder von der elektrischen Vorortbahn des Jahres 1903 über den Gleichstromtriebwagenzug der Bauart Oranienburg (1925) bis zur letzten Fahrt Heiligensee-Lichterfelde Süd am 8. Januar 1984 inklusive Text des Übergabevertrages der Deutschen Reichsbahn an die BVG.

Kursbuch

Ziemlich hilfreich für die reale Benutzung der Ring-Bahn oder auch der wunderbaren jugendherbergsatmosphärischen zweigeschössigen »Sputnik«-Züge beispielsweise zwischen Berlin und Werder/Havel (mit Umsteigen in Potsdam) ist das Kursbuch der Deutschen Reichsbahn. Der Winterfahrplan 1990/91 ist noch gültig bis zum 1. Juni und für 2 DM bei 352 bedruckten Seiten an allen guten Fahrkartenausgaben erhältlich. Inklusive sind diverse grafisch hübsch gestaltete gute Ratschläge wie »Erst informieren, dann reisen«, das rätselhafte »Abfall sammeln die Behälter besser« oder »Lösen Sie Ihre Fahrausweise rechtzeitig«, die die Uhrzeitkolonnen nett auflockern, und eine herausnehmbare farbige Karte mit dem Streckennetz der DDR. Na, und wo gibt es das heute noch?!