Die Metropole, die Firma und die Oper

Ein Gespräch mit Harry Kupfer  ■ Von Frieder Reininghaus

Die Berliner Opernlandschaft ist in Bewegung geraten. Günter Rimkus, von Honeckers Gnaden Intendant der Deutschen Staatsoper Berlin, hat — auch aus „gesundheitlichen Gründen“ — das Handtuch geworfen und zusammen mit seinem Verwaltungsdirektor seine Demission angeboten. Im kommenden Jahr feiert das altehrwürdige Institut unter den Linden seinen 250. Geburtstag. Bis dahin will der Kultursenator Roloff-Momin Daniel Barenboim als musikalischen und künstlerischen Leiter unter Vertrag haben — und Harry Kupfer, Chefregisseur der Komischen Oper, soll seinen Radius auf die Staatsoper erweitern. Die Kulturpolitik der Hauptstadt steht unter Zugzwang: Im Opernsektor muß saniert und neu investiert werden, denn die drei Häuser haben sich und die Berliner in den letzten Jahren keineswegs beständig mit Ruhm bekleckert. Der von der örtlichen Presse angeheizte Erwartungsdruck fordert Zeichensetzung: hin zu einer Kultur der Metropole, die mit dem Kulturleben in den anderen großen Zentren der Welt nicht nur konkurrieren kann, sondern es übertrumpft. Von der Deutschen Oper in der Bismarckstraße aus, deren Generalintendant Götz Friedrich ja auch nicht ohne Ambitionen ist, scharrt der dort jetzt wieder als Gastdirigent tätige Giuseppe Sinopoli mit den Füßen. Zwar hat er, kurz vor Antritt der ihm bereits vertraglich zugesicherten Chefdirigenten-Position, der Deutschen Oper wie eine beleidigte Primadonna den Rücken gekehrt, weil er und sein Clan nicht ganz so hemmungslos schalten und walten konnten, wie der Herr Doktor sich das gewünscht hatte, aber dann erwiesen sich die Geschäfte anderswo wohl doch nicht als so lukrativ wie erwartet — und nun will sich Sinopoli von einer Mehrheitsfraktion des Orchesters der Deutschen Oper wieder aufs Schild und dicht an den ganz großen Fleischtopf heben lassen. Daß in dessen Nähe der Tausendsassa Barenboim auftaucht, kann niemand verwundern.

Freilich erlaubt die Art seiner Amtsführung als künstlerischer Chef der (damals noch im Bau befindlichen) Opéra Bastille in Paris und die Tatsache, daß er noch vor deren Eröffnung bereits unsanft freigesetzt wurde, einige Fragen. Auch in Berlin erwartet ihn keineswegs ein musikalisches Sonnenkönigsdasein, sondern harte Reorganisations- und Aufbauarbeit, die er im Zusammenwirken mit dem vor Ort erfahrenen Harry Kupfer bewerkstelligen soll.

Während der Proben zu Kupfers Kölner Inszenierung von Leos Janáceks Oper Aus einem Totenhaus ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem international vielbeschäftigten Regisseur, der heute in der ersten Linie der deutschen Musiktheatermacher steht. Gerade in Köln, wo Kupfer seit 1981 an einem Janácek-Zyklus wirkt, ließ sich die künstlerische Entwicklung Kupfers exemplarisch beobachten: seine dezidierte Betonung von „sozialem Realismus“ in früheren Jahren und das Abrücken von diesem Konzept — hin zu intendierter Verallgemeinerung der menschlichen und gesellschaftlichen Probleme, die im einzelnen Werk stecken.

taz: Das „Totenhaus“ kommt als dreifach Östliches nach Köln. Dostojewskij schildert ein sibirisches Straflager (die Formen der Verwahrung und der Repression sehen im Westen etwas anders aus). Die Musik Janáceks erscheint immer noch als etwas Östliches. Und Sie, lieber Herr Kupfer, kamen bis vor kurzem aus Ost-Berlin. Da lag eine halbe Welt zwischen ihrem Stammsitz und Köln. Inzwischen sei, sagen manche, die Distanz noch größer geworden. Sie kommen also als Botschafter aus dem Osten und doch — das signalisiert Ihre Inszenierung — wollen Sie mit diesen ganzen östlichen Zusammenhängen nichts mehr zu tun haben.

Harry Kupfer: Wissen Sie, das mit dem Botschafter aus dem Osten klingt so hochtrabend. So habe ich mich nie gesehen. Ich habe in beiden Teilen der Welt gearbeitet — meine Karriere habe ich hier im Westen gemacht, und erst nach den Erfolgen hier ging sie im östlichen Bereich erst richtig los. Freilich habe ich nie für notwendig gehalten, mich dort zu suspendieren. Beim Totenhaus dürfen Sie von mir nicht erwarten, daß ich hier in Köln eine östliche Lagerstory liefere. Weder Dostojewskij tut das noch Janácek. Es ist ein philosophisches Stück, handelt von der Grundsituation der Menschen — wo auch immer auf der Welt. Wenn es zunächst im östlichen Bereich angesiedelt erscheint, so kommt das durch die Quelle bei Dostojewskij; doch überall auf der Welt, wo Menschen zusammenleben, gibt es das Problem der Isolierung durch die Gesellschaft und zugleich Formen der Selbstisolierung. Das Stück heißt ja dezidiert Totenhaus, nicht Aus einem Gefängnis und nicht Das Lager in Sibirien. Für mich ist diese Janácek- Oper wirklich ein großes philosophisches, weltanschauliches Stück.

1981, als Sie in Köln Janáceks „Jenufa“ inszenierten, setzten Sie noch ganz andere Akzente. Und im Gespräch erklärten Sie damals, daß es Ihnen vor allem um die gesellschaftlichen Aspekte, um den „sozialen Realismus“ gehe.

Das war speziell in bezug auf Jenufa gemeint!

Es war vor dem Hintergrund Ihrer Situation in der DDR gesprochen. Inzwischen hat wohl so etwas wie eine Absetzbewegung von den Idealen stattgefunden, denen Sie sich damals noch verpflichtet fühlten. Es gibt eine Entwicklung in Ihrer Arbeit.

Das können Sie vielleicht besser beurteilen als ich selbst. Ich beschäftige mich mit den Stücken auf dem jeweiligen Stand meiner Erkenntnis oder der jewiligen Konfrontation mit der Entwicklung in der Welt (und meines eigenen Status' darin). Sicher kam ich da zu anderen Gedanken und Sichtweisen. Und natürlich ist der Schritt von Jenufa zum Totenhaus groß. Die individuellen Konflikte, die Frauenproblematik der Jenufa, all das gibt es im Totenhaus nicht mehr. Diese letzte Oper Janáceks besitzt ja nicht einmal mehr eine Story im herkömmlichen Sinn, sondern sie schildert nurmehr eine menschliche Grundsituation, in der Konflikte aufbrechen und sich Wahres mit Unwahrem unauflöslich vermischt. Auch daran läßt sich Gesellschaftliches abhandeln — und das passiert auch mit dieser Inszenierung.

Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Osteuropa, insbesondere das Implodieren der DDR stellen Sie jäh vor neue Probleme — auch künstlerisch.

Sicherlich. Die dringlichsten Probleme sind ganz banaler, ökonomischer Natur. Die Frage ist jetzt, wie die östlich der Elbe gewachsene Kulturlandschaft unter den neuen Bedingungen weiterexistiert. Mit dem Geld, das bislang in der alten DDR für den Kultursektor ausgegeben wurde, kämen wir heute nicht einmal mehr drei oder vier Tage über die Runden. Die Budgets lagen ja weit unter dem, was in der westlichen Welt für entsprechende Aufgaben bereitgestellt wird. Bis 1989 hatten wir das Problem, Künstler in geeigneter Qualität zu finden, die für diese extrem niedrigen Gagen doch höchsten Einsatz brachten. Das fällt jetzt weg. Wir können jetzt an die Komische Oper Sänger aus aller Welt holen, aber sie müssen genauso bezahlt werden wie in Paris, Wien oder London. Dieses Geld muß erst einmal da sein.

Für die rund 30 Opernhäuser in der früheren DDR, deren Theaterlandschaft ja außerordentlich groß und breit gefächert war, ist eine extrem komplizierte Situation entstanden. Das erste ist, daß die tradierten Werte von Entwicklungen des Musiktheaters zum Teil neu zu bestimmen sind; vor allem aber muß man sie vor dem Verschleiß retten. Für meine Arbeit an der Komischen Oper — und sie wird mein Schwerpunkt bleiben — heißt das, daß wir das, was wir unter Maskierungen und bestimmten Deckmänteln im letzten Jahrzehnt entwickelt haben, jetzt unter den neuen Bedingungen nicht verschleudern, sondern in eine neue Qualität überführen. Aber für das Theater in der ehemaligen DDR — und ich denke da vor allem auch an die vielen kleinen Häuser — gilt, daß großes Fingerspitzengefühl notwendig ist. Man kann da nicht einfach mit dem Rotstift Dinge wegstreichen. Es ist notwendig zu reorganisieren, damit künstlerische Potenzen gerettet und soweit wie möglich Härtefälle vermieden werden können. Bei den ganz kleinen Städten sind neue Formen der Kooperation zu überlegen, damit die ökonomische Notsituation aufgefangen und vor allem die Qualität besser wird. All das erscheint im Augenblick als Berg von Problemen, der mir schlaflose Nächte bereitet, aber ich denke, man muß und kann sie auch lösen.

Welchen Einschnitt bedeutete die „Wende“ für Sie persönlich?

Veränderung bringt sie mit sich, Beunruhigung auch. Denn es ist ja so: Wenn man sich einmal entschlossen hatte, nicht wegzugehen, außer wenn Gefahr für Leib und Seele drohte, dann gab es ja dort in der DDR eine Aufgabe. Ich habe mich ihr gestellt und versucht, ein Konzept trotz aller Schwierigkeiten auf Teufel komm raus durchzuziehen. Und das ist unter den neuen Bedingungen nicht nur zu bewahren, sondern zu behaupten: Die inhaltliche Seite muß vor der kommerziellen stehen. Denn der Einbruch des Westens in den Osten bedeutet unter anderem auch die Korruption durch Ökonomie. Dagegen gilt es den Stellenwert des Ideellen zu setzen.

Vorher gab's die Korruption durch Politik.

So ist es. Aber jetzt müssen wir uns gegen die ökonomische Korruption stellen. Auch die neuerdings an mich gerichtete Frage ist sinnlos: „Jetzt können Sie doch gar nicht mehr oppositionell sein.“ Kann ich wohl — nur ist die Stoßrichtung eben eine andere.

Gab es an Sie, wie an andere Personen in vergleichbaren Funktonen, unsittliche Anträge der „Firma“, der Staatssicherheitsorgane der DDR?

Die waren sicherlich da. Aber ich konnte sie zurückweisen. Sie sind, Gott sei Dank, so spät auf mich zugekommen — als ich meine Karriere im Westen schon gemacht hatte und es nicht mehr so einfach war, mich unter Druck zu setzen. Ich habe deutlich gemacht, daß ich die DDR verlasse, wenn ich nicht in Ruhe gelassen werde. Es lag im Interesse des damaligen Staates, daß ich bleibe — und unter diesem Aspekt konnte man „unsittliche Anträge“ einfach nicht zur Kenntnis nehmen. In den Anfangsjahren wurden die Reiseanträge meiner Frau häufig und manchmal ganz kurzfristig abgelehnt.

Sie wurde als eine Art Faustpfand zurückbehalten?

Also das meine ich. Das waren solche erpresserischen Handlungen. Aber nachdem ich 1978 in Bayreuth mit dem Fliegenden Holländer Erfolg hatte, war das nicht mehr möglich. Freilich hat nicht jeder Mensch die gleiche Zivilcourage. Es gibt ja auch persönliche Bindungen oder unglückliche Situationen, in denen sich Wissenschaftler und Künstler haben weichklopfen lassen. Man muß das Problem sehr differenziert betrachten. Jeder staatliche Leiter der ersten Ebene, ob Intendant oder Betriebsdirektor, hatte ständig mit der Firma Kontakt. Vor jedem Auslandsgastspiel war von ihr die Genehmigung einzuholen, wer reisen durfte und wer nicht. Das ging gar nicht anders. Jetzt gibt es ein außerordentlich dummes Gequatsche darüber. Schlimm ist, daß manche Leute — und sie sind heute wieder besonders laut — aus freien Stücken mit der Firma zusammengearbeitet haben, um irgendwelche Privilegien zu bekommen. Das sind für mich die echten Schweine, die andere Leute ans Messer geliefert haben. Vielleicht war es meine Sturheit, die mich für einen solchen Job als ungeeignet erscheinen ließ.

Sie sind als Melkkuh benutzt worden.

Aber ja. Immer dann, wenn wir Erfolg hatten, galt das als Erfolg der DDR. Außerdem haben wir für die Arbeiten im Westen erst hier die Steuer bezahlt, wie sich das für jeden gehört, und haben dasselbe mit hohen Pflichtumtauschraten noch einmal im Osten tun müssen. So war es ein doppeltes Geschäft für den Staat, uns rauszuschicken. Wenn wir erfolgreich waren, war's die Goldmedaille, zum andern brachten wir Devisen.

Die Karten für die Führungspositionen im Berliner Opernbetrieb werden neu gemischt. Sie sind mit starken Trümpfen dabei. Wird es eine grundsätzliche Reform der Musiktheaterlandschaft geben?

Die Komische Oper wird sozusagen meine Heimat bleiben. Dann gibt es in Berlin die Möglichkeit des Aufbaus der Staatsoper Unter den Linden zu einem wirklich erstklassigen Haus. Wenn Daniel Barenboim dieses Haus übernimmt und großen Wert auf meine Mitarbeit legt, wie das jetzt der Fall ist, dann werden wir zusammen große Oper machen. Ich werde meine Arbeit also auf Berlin konzentrieren und auswärtige Verpflichtungen reduzieren. Die Zusammenarbeit mit Barenboim ist eine unglaubliche Herausforderung und wird, wenn es so kommt, wie es geplant ist, meine nächsten Jahre, die ich noch habe, sicherlich in Anspruch nehmen.

Über die Frage einer Opernreform wird noch diskutiert. Ich hielte es allerdings für unsinnig, die Existenz der drei Opernhäuser in Frage zu stellen. Berlin hatte immer drei oder vier. Und sie wurden und werden, wenn die Programme interessant und die künstlerische Qualität gut ist, immer frequentiert. Der Wegfall der Mauer hat keine Einbuße an Publikum gebracht. Und die Bevölkerung Berlins wird nicht weniger, sondern mehr — und das recht schnell. In einer Stadt mit fünf oder mehr Millionen Einwohnern ist über diese drei Häuser mit ihrer Platzkapazität überhaupt nicht zu diskutieren.

Durch die politische Entwicklung kam Berlin zu zwei Staatsopern, eine im Osten und eine in West-Berlin, die Deutsche Oper. Jetzt haben wir diese zwei Häuser. Wenn man es vernünftig macht — an beiden auf Halb-Staggione umsteigt und bei großer Quantität höchste Qualität bietet —, dann hat Berlin die Chance, ein großes, internationales, kulturförderndes Opernzentrum zu haben. Man kann überlegen, ob das unter ein Dach kommt oder nicht. Das sind Organisationsformen, die man sicher unter ökonomischen Aspekten bedenken muß: Was ist sinnvoll für die Stadt? Aber die künstlerische Konkurrenz ist durchaus notwenidg. Die wunderbare Architektur, die Intimität der Linden-Oper, eines der schönsten Opernhäuser überhaupt, bestimmt, daß man dort von Mozart bis Wagner alles spielen kann — auch für Wagner ist die Bühne noch groß genug. Die Deutsche Oper ist dagegen riesengroß; dort habe ich immer den Eindruck, daß Mozart nicht so recht hinpaßt. Aber für den Ring eignet sie sich vorzüglich und für die großen slawischen Opern. In jedem Fall muß es eine Abstimmung der Programme aufeinander geben. Wenn im übrigen produktive Konkurrenz herrscht, wird sich das reich auswirken auf die Kunstdiskussion. Wünschenswert wäre es, daß Berlin international an die Spitze rückt und dabei große Eigenständigkeit beweist. In dieser Stadt sind alle Möglichkeiten da.