Ein Zwitter in Sankt Peter?

Über die Schwierigkeiten des Westens, die Hintergründe für den Machtzuwachs des Papstes zu erkennen  ■ Von Werner Raith

Dem 'Spiegel‘ läuft er alle paar Jahre, meist zu Weihnachten, für eine maliziöse Titelgeschichte über den Weg (Die Rückkehr des Teufels, 1986, Der Papst und die Lust, 1990); in den US-Medien war er, zumindest bis 1990, jahrjährlich gut für die Auszeichnung als „Mann des Jahres“. Frankreichs streng auf Trennung von Kirche und Staat achtende Politik behandelt den Herrscher über ganze 1.500 Untertanen wie den Vertreter einer Großmacht; ja sogar im Reich der Sowjets wurden ihm Ganzseitenartikel gewidmet zu einer Zeit, als dort noch der Atheismus herrschte: Karol Wojtyla, seit 1978 Oberhirte über knapp eine Milliarde Katholiken, hat wie kein zweiter seines Amtes in diesem Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Welt auf den Vatikan gezogen und dabei einen ungeahnten Machtzuwachs verzeichnet.

Beides, Aufmerksamkeit wie Macht, wurde ihm freilich aus ganz unterschiedlichen Motiven zuteil. So gilt er der deutschen Öffentlichkeit schon seit seinen ersten Amtsjahren als der Wende-Papst, der die erfreuliche Öffnung der Kirche zur Welt seitens seines Vorvorgängers Johannes XXIII. entschlossen abbrach und zurücklenkte zur innerkirchlichen Restauration. Den Italienern, inhaltlich einer Verweltlichung ebenfalls nicht abgeneigt, war er trotzdem sehr willkommen: war doch durch ihn, den Polen, endlich Schluß mit der ständigen Identifikation aller päpstlichen Dummheiten mit ihrem Land (seit einem halben Jahrtausend waren alle Oberhirten Italiener). Amerikaner und Sowjets sahen den Papst übereinstimmend als ideologische und politische Brechstange hinein ins Reich des Realsozialismus — was die US-Präsidenten und ihre Geheimdienste natürlich sehr erfreute, die Russen dagegen mächtig verdroß.

Derzeit stehen die Zeichen umgekehrt: Es waren die Amerikaner, die der Papst mit seiner allsonntäglichen Philippika über ihren Golfkrieg kräftig zauste, während er zugleich seiner Sympathie für Gorbatschows Friedensplan Ausdruck verlieh. Mehr noch: Oft scheint es, als hege der Katholenhirte weit mehr Sympathie für Saddam, zumindest seit dieser der Auseinandersetzung eine religiöse Note verpaßt hat, als für den US-Herrscher, auch wenn dieser vor dem Kampf ebenfalls zum (christlichen) Gebet aufrief.

Das bisherige Image des kleinkarierten Antibabypillen- und Lustfeindlings wird derzeit total überlagert vom Bild des kompromißlosen Friedenspredigers, dem man sogar seine zwischenzeitliche Abkehr von seinen Worten („Wir sind keine Pazifisten: Ein Friede um jeden Preis kann auch neue Kriege bedeuten“) nachsieht — weiß man doch vom Anruf des italienischen Ministerpräsidenten Andreotti, der zwar ähnlicher Ansicht ist wie Wojtyla, aber wg. Bush und Israel zu etwas leiseren Tönen geraten hat.

Tritt da nun ein neuer, ein anderer Papst hervor — oder ist der Heilige Vater einer gewissen Schizophrenie anheimgefallen, die ihn hin- und herschwanken läßt zwischen seiner sonst bei Menschenrechtsverletzungen durch rechtgewirkte Diktaturen nicht sonderlich ausgeprägten Pingeligkeit und einer nun bedingungslosen Verurteilung aller Gewalt? Erweist sich der Marien-Verehrer mit seiner fast ins Mittelalter zurückreichenden Simpeltheologie als ein politischer Zwitter, der auch mal auf einen anderen Zug aufzuspringen vermag?

Deutungen dieser Art bieten sich an und werden allerorten auch favorisiert. Mitunter wird — wie wiederum im 'Spiegel‘ in seinem stark an Italiens 'Panorama‘ angelehnten Artikel zur Haltung gegenüber Israel — die Widersprüchlichkeit gar als eine Art Prinzip vatikanischer Politik dargestellt (der Papst besucht 1986 als erster Katholen-Chef die Synagoge in Rom, teilt danach aber wieder böse Schläge gegen die Juden aus; er verurteilt die amerikanischen Bomben, nicht aber expressis verbis auch die Hussein-Raketen auf unbeteiligte Länder etc.).

Tatsächlich aber ist Wojtylas derzeitiger Kurs weder eine Wende noch Zwittertum. Wer das unterstellt, macht den Fehler, seine Augen nur auf den Papst zu richten — und nicht auf die Welt rundherum und gerade auf deren Veränderung. Seit 1860 im Zuge der italienischen Reichseinigung der Kirchenstaat abgeschafft (er hatte bis dahin noch mehr als ein Drittel des Landes bestimmt, nämlich Lazium, Emilia Romagna, Marken, Umbrien) und danach auf das nur 0,44 Quadratkilometer große „Patrimonium Petri“ um den Petersdom beschränkt wurde, kam mit dem Mann aus Krakow erstmals wieder ein Papst auf den Thron von Sankt Peter, der Politik und Öffentlichkeitsarbeit ganz und gar in den Vordergrund zu rücken schien. Auch wenn einige Inhaber des Heiligen Stuhles im 20. Jahrhundert behutsam mit einem Ausstieg aus der Beschränkung auf reine Glaubensfragen begonnen hatten (der Vatikan unterhielt 1914 zu nicht einmal einem Dutzend Staaten diplomatische Beziehungen) — etwa Benedikt XV., Pius XI. und der nach Art eines Topdiplomaten auftretende Pius XII. —, so glich doch keiner von ihnen auch nur annäherungsweise dem weltgewandten Aufsteiger aus Polen. Daß er der Politik einen absoluten Primat einräumte, schlossen die meisten Vatikanologen vor allem aus dem eklatanten Widerspruch zwischen seinem modernen Erscheinungsbild und seiner immer reaktionärer anmutenden Theologie: auf der einen Seite die bühnenreif vorbereiteten (mitunter durch den Regisseur Zeffirelli gestalteten) Auftritte auf dem Petersplatz und auf seinen mittlerweile über sechzig Auslandstourneen, sein publicityheischendes Lächeln, seine gepflegte Privatattitüde als ehemaliger Schauspieler und als aktiver Sportler (im Schwimmbad und auf Skiern); auf der anderen Seite Lehrbriefe und Dogmen, die nicht nur an vorkonziliäre Zeiten, sondern an Epochen vor der Reformation erinnerten. Kritiker sahen bei Wojtyla ein Defizit an theologischem Wissen, vermuteten, daß er sich ganz und gar auf seine Berater verließ, die er streng nach deren konservativer Einstellung auswählte, wie etwa den ehemaligen Münchner Kardinal Ratzinger, der als Obereinflüsterer in allen Glaubensdingen gilt. Die Theologie aus Rom schien den meisten geradezu ein Anachronismus in der modernen Welt.

Um so glaubwürdiger erschien da die These, daß dieser Papst vor allem in die Reihen der weltlichen Herrscher eintreten, der Kirche wieder eine zentrale politische Rolle zuweisen will und die Theologie da eben keine so große Rolle spielt. Für den Vorrang der Politik und die Ausrichtung der Vatikan-Regierung an modernen Führungsformen schien auch zu sprechen, daß Wojtyla seinem Vatikanstaat eine gewisse administrative Transparenz zu verpassen begann. Spenden trieb er nicht mehr per Angstmachen vor der Hölle ein, wie weiland der Prediger Tetzel vor Luthers Kirche, sondern durch die Veröffentlichung der Defizitzahlen seines Staatsetats. Für seinen politischen Spürsinn sprach auch, wie er sich bereits in seinen ersten Regierungsmonaten geradezu machiavellistisch die wichtigsten Basisorganisationen und Laienvereinigungen (von „Comunione e liberazione“ bis zum „Opus Dei“) zu willfährigen Pressure-groups heranzog. Unbotmäßige Personen und Gruppen — etwa eine Reihe deutscher und holländischer Theologen, den Franziskanerorden und die Jesuiten — gängelte er so stark, daß diesen nur Unterwerfung blieb oder der Kirchenaustritt. Vor dem aber scheuten die meisten zurück, und so vegetieren sie nun vor sich hin, für den Papst der Beweis seines Sieges: So geht es denen, die gegen St. Peter aufstehen. Daß viele von ihnen — wie etwa die noch vor zwei Jahren mit Schreibverbot belegten südamerikanischen „Befreiungstheologen“ — ihm nun Solidaritätsadressen für sein Friedensengagement zusenden, nimmt er nicht als gegenseitige Wiederannäherung entgegen, sondern erklärt sie zum Zeichen der Einsicht seiner Gegner in ihrem Irrtum ihm gegenüber.

Natürlich hatten und haben viele, die den Papst politisch unterstützten oder jetzt unterstützen, mit seinem Glaubensdogma nicht viel am Hut — man nimmt es gutmütig oder kopfschüttelnd zur Kenntnis, wenn Wojtyla wieder mal Unpraktikables (wie das Pillen- und Abtreibungsverbot) oder Unglaubliches (wie die These von der Leibhaftigkeit des Teufels) verkündet. Und wer ihn weder politisch noch dogmatisch ausstehen konnte, gewöhnte sich schon Mitte der 80er Jahre an, die neuesten Sprüche und Entdeckungen aus St. Peter eher süffisant oder satirisch zu kommentieren als ernst zu nehmen. Was Ideologie und modernes Denken anging, wurde der Papst zum hoffnungslosen Fall erklärt.

Ein schwerer Fehler. Nicht weil Wojtyla sich als wandlungsfähig erwiesen hätte — er hat, im Gegenteil, all seine Prinzipien in immer neuen Lehrbriefen und Enzykliken noch verschärft. Gewandelt hat sich inzwischen ein ansehnlicher Teil der Welt: Es handelt sich also um eine Annäherung der Welt an den Papst und nicht umgekehrt, ein Umstand, der den meisten Menschen, vor allem im Westen (der Osten und der Süden hört ihm seit langem wesentlich genauer zu), erst allmählich bewußt wird. Konsequent wiederholen die westlichen Medien, vor allem die papstkritischen, längst abgeklapperte Plattitüden, wenn sie ihm ans Zeug wollen, statt sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen.

So verschenkt zum Beispiel 'Der Spiegel‘, Augsteins persönlicher Artikel zum 218 eingeschlossen, in seiner letzten großen Papst-Geschichte Weihnachten 1990 nahezu den ganzen Raum mit endlosen Zitaten und Hinweisen auf die Lustfeindlichkeit des Papstes, seine Invektiven gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung. Die Fragen sind längst andere: Warum nimmt die Welt diesen Papst ernst, während sie sich über seinen Vorgänger Paul VI. totgelacht hat, obwohl der genau dasselbe oder noch Reaktionäreres verkündet hat? Sollte es nicht zu denken geben, daß die Kassen des Heiligen Stuhls plötzlich wieder gefüllt sind, daß niemand mehr von den Löchern spricht, die die Börsenspekulationen des Kämmerers Marcinkus in die Besitztümer des „Istituto per le opere di religione“ (IOR) gerissen haben, oder von der Verfilzung von Vatikan und Dunkelmännertum Marke Loge „Propaganda 2“ und Mafia? Muß man sich nicht wundern, daß Italiens sogenannte „laizistische“ Parteien — Republikaner (industrienah), Liberale (Banken und Versicherungen) und Sozialdemokraten (Mittelstand und Kleinunternehmer) — ehemals jederzeit zur Attacke gegen die Verflechtung von Kirche und Politik bereit, in den letzten Jahren kaum noch ein Wort der Kritik am Papst vorbringen? Daß die Linksopposition die in allen Angelus-Gebeten gleichzeitig mit den Waffenstillstandsappellen ausgesprochene Verurteilung von Abtreibung und Empfängnisverhütung, einst Stein des Anstoßes Nr. 1, nun plötzlich überhört?

Auch seitens der Regierung blieb Kritik aus, als der Kirchenchef in der Golffrage sich die Amerikaner mehr vorknöpfte als Saddam Hussein und sich dabei ohne jede Scheu mit den oppositionellen Kommunisten verbündete. Der 'Panorama‘-Artikel, der den Chor der Kritiker auf die Weigerung des Vatikans zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel aufmerksam machte, ging völlig ins Leere: Die vom Heiligen Stuhl genannten Gründe (unklare Grenzen Israels aufgrund der Besetzung von Westjordanien, ungelöste Frage des Status von Jerusalem und des Schutzes der heiligen Stätten etc.) schienen auch der liberalen Presse einleuchtend; selbst ein Vorstoß des notorischen Israel-Freundes Senatspräsident Spadolini blieb ohne großen Widerhall. Und sogar in den USA ordnet die — protestantische — Mehrheit die Invektiven des Papstes als Äußerungen eines qua Amt zur Humanität vergatterten Kirchenführers ein und nicht als politischen Angriff.

Die Nachsicht kommt nicht von ungefähr: Johannes Paul II. kann sich mittlerweile in der ganzen Welt so viel herausnehmen wie keiner seiner Vorgänger seit der Renaissance. Damals, im frühen 15. Jahrhundert, kam es unter Innozenz III. zum Höhepunkt päpstlicher Weltherrschaft. Der Machtzuwachs ist dabei weniger Frucht seiner Politik als seiner Theologie. In Wahrheit nämlich hat er, spätestens seit Mitte der 80er Jahre, die Glaubensdogmatik über die Politik zu stellen begonnen, ja er leitet seine Politik aus den Maximen seiner „fides cattolica“ ab. Dabei mag man seine Lehren als fundamentalistisch oder altertümlich, als reaktionär oder, angesichts seiner Zartheit gegenüber Diktatoren, gar als inhuman oder unchristlich abtun: Tatsache ist jedenfalls, daß Wojtyla mit seiner Theologie Forderungen stellt und Probleme zur Sprache bringt, die auch in der internationalen Politik immer mehr in den Vordergrund rücken.

Früher als viele andere hatte Johannes Paul II. erkannt, daß die traditionellen, seit nahezu einem Jahrhundert dominierenden Positionen weder in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung noch in den Kämpfen der Staaten untereinander noch allzulange Bestand haben würden — weder der Ost-West-Konflikt noch die Auseinandersetzung um Marxismus und Kapitalismus noch die Frage sozialistische Diktatur oder markwirtschaftliche Demokratie. Wahrscheinlich hat ihm dabei die Einsicht in die unüberwindbaren Schwächen seines eigenen Landes Polen geholfen, eine Erfahrung vor Ort sozusagen. Noch wichtiger war für ihn aber die Auswertung der Vorgänge um den Machtwechsel im Iran, der 1978/79 nahezu gleichzeitig mit seiner Wahl zum Papst stattfand: Erstmals in der Neuzeit wurde ein schon weitgehend in die westliche Lebensweise integriertes, vom „Abendland“ mächtig ausgerüstetes Regime nicht durch einen Militärputsch — wie anderwärts üblich — beseitigt; vielmehr kam hier eine Massenbewegung zum Tragen, die stark religiöse Züge aufwies und sich zu weiten Teilen als fundamentalistisches Bollwerk gegen okzidentale, weltliche Lebensformen verstand. Mit einem religiösen Oberhaupt an der Spitze, das unverzüglich auch die politische Führung übernahm und wild entschlossen war, notfalls mit mittelalterlichem Kampfeswillen und nackten Händen gegen hochentwickelte Waffentechnologie und moderne Ideologie anzutreten. Eine Bewegung, die alsbald in viele andere Länder übergriff und die dem Westen im Grunde bis heute unverständlich blieb, dachte sie doch gar nicht daran, den diktatorischen Schah durch liberalere oder gar demokratische Herrscher zu ersetzen. Im Gegenteil: Sie griff zurück auf mittelalterliche Gepflogenheiten wie Verschleierung der Frauen, Handabschneiden bei Dieben und Aufknüpfen wegen in unseren Augen eher harmloser Vergehen.

Wojtyla sah das wohl von Anfang an anders: Hier belebte sich eine Ausbreitungs- und Missionsmentalität, die die europäischen Geschichtsbücher den „Mohammedanismus mit Feuer und Schwert“ nennen. Nach einem mehr als hundertjährigen Siegeszug konnte er in Spanien gestoppt werden und schob sich später erneut über das Türkenreich weit in den Westen hinein vor. Für Johannes Paul II. und die von ihm immer häufiger nach Rom berufenen Morgenland-Experten (eine Maßnahme, auf die kaum einer seiner Kritiker achtete) bewies der Erfolg des muselmanischen Fundamentalismus vor allem, daß sich politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen künftig nicht entlang den mehr oder minder rationalen Denklinien von Marx, Popper oder auch der christlichen Soziallehre entwickeln und lösen würden, sondern immer häufiger im Rahmen eher irrationaler, im Glauben und nicht im kalten Kalkül wurzelnder Massenbewegungen.

Der Weg in eine christliche Gegenbewegung war damit fast zwangsweise vorgezeichnet; doch dafür mangelte es sowohl im Protestantismus als auch im Katholizismus und in allen christlichen Nebenlinien an jeglichem Fundament. Das Christentum, in mehr als eineinhalb Jahrtausenden Machtkumpanei total korrumpiert und längst weit entfernt vom jenseitsgerichteten Denken, hatte keine Basis mehr, mit der es eine in nicht allzuferner Zukunft denkbare Auseinandersetzung mit den religiösen Bewegungen des Ostens angehen könnte. Im Gegenteil: Das, was zur Zeit des Amtsantritts von Wojtyla als fundamentalistisch-christliches Tun galt, zielte in die entgegengesetzte Richtung. Die sogenannten „Basisgemeinden“ der Armutsorden, die „Befreiungstheologie“ Südamerikas, die Doktrinen der mittel- und nordeuropäischen Kämpfer gegen die weltliche Macht der Kirche: Sie alle sahen Christentum als praktiziertes Engagement im Sozialleben, als Partizipation an direkter Demokratie, als Solidarität für die Schwachen und Armen — und nicht als irrationales Hinsteuern aufs Jenseits ohne Rücksicht aufs Diesseits, als Anwartschaft auf einen Märtyrerposten im Zuge einer Missionierung der gesamten Welt.

Nur konsequent sind daher die zunehmenden Angriffe der Wojtyla hörigen Kurie auf die Befreiungstheologen Südamerikas und die Basisgemeinden in aller Welt: Fundamentalismus darf nicht im Diesseits wurzeln. Ratio ist Menschenwerk mit dem teuflischen Nebenerfolg, daß sie eigenes Denken zuläßt und Fremdbestimmung erschwert. Massenbewegungen lassen sich dann gut von außen lenken, wenn sie irrational sind. Prüfsteine für die Lenkbarkeit sind Unterwerfungsriten: Kindermachen, obwohl die vorhandenen schon verhungern, Jungfernschaft, obwohl es längst keine Gründe mehr dafür gibt (wie früher die Erbschaftsgesetze oder auch der Schutz der Mädchen vor sexuellem Mißbrauch durch Väter und Brüder); Priesterzölibat, obwohl kein Pfarrersanwärter heute noch durch seine Hinterlassenschaft der Kirche Reichtum verschaffen wird. Gerade der vielen als platt erscheinende Naiv-Katholizismus ist es, den man den Massen mit wenigen Glaubenssätzen verklickern kann, im Gegensatz zur komplizierten modernen Exegese.

Auch das hat Wojtyla vom Islam gelernt: Spätestens seit Chomeini bedeutet dort Fundamentalismus (jedenfalls der politisch wirksame) nicht etwa eine differenziertere Glaubensauslegung; im Gegenteil: Die Professoren- und Intellektuellenkaste des Islams wurde dabei völlig kaltgestellt. Mohammedanische Schriftsteller, wie etwa der Marokkaner Tahar Ben Jelloun oder der Algerier Nabil Fares, sehen übereinstimmend „den wirklichen Islam hinweggespült von einem platten Fundamentalismus der Massen“, eine Reihe arabischer Intellektueller hat in den großen Tageszeitungen des Vorderen Ostens und des Maghreb im Januar 1991 einen Aufruf zu „differenzierterer Sicht des Glaubens und der Politik“ veröffentlicht. Vergebens.

Die mittlerweile in Ansätzen erkennbare Antwort Wojtylas auf diese Entwicklung läßt beträchtliches strategisches Geschick erkennen: Er reagiert weder mit Katastrophenrufen noch mit einer sichtbar gegen den Islam gekehrten Theologie. Vielmehr setzt er seinen Fundamentalismus so, daß dieser sich nicht als Antiislamismus zu erkennen gibt. (Zum Beispiel gibt es keinerlei Reaktionen seitens des Vatikans auf die Folterungen und Hinrichtungen im Iran). Er vermeidet alles, was Mohammedaner, gleich welcher Couleur, aggressiv machen könnte, ja er geht mit ihnen um wie mit Verbündeten. Er trifft sich mit den Führern der anderen Weltreligionen, gemeinsam mit ihnen erklärt er die Weltlichkeit unserer Zeit zum Feind des Glaubens, organisiert mit ihnen spektakuläre Gebetswochen für den Weltfrieden, wie jene vor drei Jahren in Assisi. Ganz nach Art der altrömischen Triumvirate bereitet er so das Terrain für künftige Auseinandersetzungen, indem er sich mit den anderen Religionsführern zunächst zusammentut, gemeinsam mit ihnen mögliche interne Oppositionsbewegungen ausschaltet — um danach dann um so unbekümmerter gegeneinander vorgehen zu können.

So erklärt sich auch sein Eintreten für Saddam und weniger für Israel, für die arabische Welt und nicht für Bush: Die Zeit für eine ideelle Auseinandersetzung mit dem Orient hält Johannes Paul II. noch nicht für reif, das Christentum dogmatisch und ideologisch noch nicht stark genug für den großen Kampf. Die Katholiken im Libanon und die Christen im Irak sind ihm momentan wichtiger als die zeitweise Verstimmung mit Washington und die Kritik an seiner Haltung zu Israel.

Das erkennen mittlerweile immer mehr Politiker, wie die Häufung von Papst-Zitaten in öffentlichen Reden zeigt (die morgendliche Pressemappe von Vatikan-Sprecher Joaquim Navarra ist seit Monaten zum Platzen dick): Viele sehen im anfangs belächelten Fundamentalismus Wojtylas mittlerweile die einzige aussichtsreiche Entgegnung des Westens auf den muselmanischen Radikalismus. Aufgeklärte Geister mögen von der Vision einer Zukunft mit Wojtyla-Katechismen analog zum Koran entsetzt sein; doch keiner der größeren Staatslenker, ehemaliger Ostblock inklusive, erhebt heute noch ernsthafte Einwände gegen die geistige Führerschaft des Papstes in der außerislamischen und außerbuddhistischen Welt. Im Gegenteil; lautes Beten und Aufrufe zur Andacht ganz nach Art des Papstes gehören wieder zum Standardrepertoire von Einsatzleitern und Regierungschefs, heißen sie nun Schwarzkopf, Bush oder Major.

Auch die Leiter großer Wirtschaftsunternehmen beginnen die Inhalte des Wojtylaschen Weltverständnisses ernst zu nehmen. Waren in den 60er und 70er Jahren Politik und Wirtschaftsführung der ersten Welt darauf ausgerichtet, die Menschen in der sogenannten Dritten Welt auf ein gewisses Bildungsniveau zu heben, um ihnen die Bedienung und damit auch den Kauf moderner Maschinen zu ermöglichen, so hat man mittlerweile begriffen, daß das mitgelieferte Know-how sich meist nicht auf bloße Technik beschränken ließ. „Auch politische Emanzipation trat ein“, stellte ein Fiat-Bericht aus Südamerika entnervt fest. Und das Lamento der IBM-Führung 1984: „Unabhängigkeitsbewegungen haben westliche Konzerne auch vertrieben, wenn diese eindeutig zum Wohle der betreffenden Länder arbeiteten.“