Von Glasnost bleibt ein leerer Wahn

Der Sonnenuntergang der Perestroika bringt die kritischen Medien in der Sowjetunion in Bedrängnis/ Die KPdSU greift nach den Chefsesseln der Redaktionen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Zum Heulen komisch“ betitelte die Illustrierte 'Ogonjok‘ kürzlich einen Artikel über das staatliche Fernsehen. Aber zwischen Lachen und Weinen, nämlich im Bereich des Grotesken, spielt sich in letzter Zeit auch das Leben anderer sowjetischer Medien ab. So erfuhren zum Beispiel die Redakteure einer der größten Zeitungen des Landes, daß der Mann, den sie ursprünglich zu ihrem Chefredakteur gewählt hatten, von Außenstehenden dorthin geschickt werden soll, wo der rote Pfeffer wächst — nämlich als Korrespondent nach Spanien.

Was nun das Fernsehen anbetrifft, so ist nach einem am 8. Februar erlassenen Ukas von Präsident Gorbatschow eine „staatliche Allunions- Radio- und Fernsehgesellschaft“ zu gründen, die alle Strukturen der bisherigen Gesellschaft „Gosteleradio“ und die ihr untergeordneten Betriebe in sich aufsaugt. Sie wird nur noch einen einzigen Angestellten haben, nämlich den Vorsitzenden Leonid Petrowitsch Krawtschenko. Allein dem Präsidenten rechenschaftspflichtig, soll er alle anderen Mitarbeiter auf der Basis von Werksverträgen hinzuziehen. Was das bedeuten kann, merkten die Mitarbeiter des sozialkritischen TV-Magazins Wzgljad, einer der Sendungen mit den höchsten Einschaltquoten, die von heute auf morgen abgesetzt wurde. Die Kollegen vom Leningrader Programm, das von etwa 70 Millionen Zuschauern in Nordrußland und den baltischen Staaten gesehen wird, entwickelte daraufhin eine der originellen Ideen, für die sie bekannt sind: Sie erklärten, daß sie sich mitsamt ihrem technischen Gerät und den Sendeanlagen dem staatlichen Fernsehen der Union nicht mehr zugehörig fühlten. Sie suchen nun sozusagen „per Ausschreibung“ eine neue Dachorganisation, die bereit wäre, sie aufzunehmen.

All diese Vorgänge wirken wie eine Serie von Putschen, teils von oben, teils von unten, und entfalten sich doch auf der Grundlage einer soliden Konstante: Eine Zensur fand in der Sowjetunion praktisch immer statt, indirekt auch noch in den letzten Monaten, obgleich das erst im August verabschiedete neue Pressegesetz dies ausdrücklich verbietet. So gesehen fiel es Präsident Gorbatschow leicht, die Niederlage im Obersten Sowjet einzustecken, als er nach den Ereignissen im Baltikum, dieses Gesetz außer Kraft setzen wollte, wie ein neues Spielzeug, dessen man schnell überdrüssig geworden ist. Das wirksamste Druckmittel gegenüber den unzähligen kleinen Provinzzeitungen, die im letzten Jahr in der Sowjetunion aus dem Boden geschossen sind, ist noch immer die ökonomische Blockade.

Vielerorts sehen sich diese einem doppelten Monopol gegenüber: Papierhandel und Druckereien sind fest in der Hand der KPdSU, die ihre Preise je nach Sympathie festsetzt, auf der anderen Seite verweigert sich das staatliche Verteilungsnetz. Aber auch eine Reihe von Verwaltungsakten haben das Gesetz verletzt: So ein Erlaß des Ministerrates, der den Begriff des Staatsgeheimnisses weitherzig auslegt, ein Erlaß, der die Registrierung von Videorekordern und -kameras vorschreibt und nicht zuletzt ein Ukas des Präsidenten zur „Demokratisierung“ von Rundfunk und Fernsehen. Darin wird der Begriff der „Objektivität“ so ausgelegt, daß er persönliche Meinungsäußerungen in diesen Medien praktisch ausschließt.

„Als es noch eine Zensur gab, war uns die Objektivität automatisch garantiert“, kommentiert Leonid Trejer in 'Moscow News‘ ironisch. Nun, da sich die Herrschenden voreilig dieses Instrumentes beraubt hätten, meint er, kämpfen sie um die Möglichkeit, Journalisten von den Führungsetagen aus zu gängeln. Das frappierendste Beispiel hat sich in der 'Iswestija‘-Redaktion ereignet. Als vor zehn Monaten der bisherige Chefredakteur seinen Posten quittierte, um in die Politik zu gehen, beschloß die Redakteursversammlung — scheinbar im Zuge der Zeit — den Nachfolger selbst zu bestimmen. Die Wahl fiel einstimmig (!) auf Igor Golembiowskij, vor allem wegen seiner fachlichen Fähigkeiten. Golembiowskij, im Vergleich zu den Jüngeren im aufmümpfigen 'Iswestija‘- Team ein eher gemäßigter Liberaler, gilt als bis ins I-Tüpfelchen gewissenhafter Redakteur.

Da die 'Iswestija‘ aber nun einmal vom Ministerrat der UdSSR herausgegeben wird, hat laut Statuten das Präsidium des Obersten Sowjet ebenfalls ein Mitspracherecht. Parlamentspräsident Lukjanow hatte seinerseits auch schon einen Mann seiner Wahl für die Stelle parat: Nikolaj Jefimow. Die 'Iswestija‘-Redaktion biß schließlich in den sauren Apfel, unter einer Bedingung: Golembiowskij wurde zu Jefimows erstem Stellvertreter ernannt. Wie sehr mußte sich da Golembiowskij wundern, als er Ende Januar zu Lukjanow zitiert wurde, der ihm einen Brief der 'Iswestija‘ vorlegte, in dem um seine Versetzung als Korrespondent nach Spanien gebeten wurde. Den Brief hatte niemand anders verfasst, als Jefimow.

Während am 30. Januar auf der Redakteursversammlung der 'Iswestija‘ die Wogen hoch schlugen und die Mehrheit Jefimow das Mißtrauen aussprach, tat Lukjanow bereits den nächsten Schritt. Ohne Ankündigung ließ er im Obersten Sowjet einzelne Mitglieder des Präsidiums zu ihrer Meinung über Golembiowskijs Versetzung nach Spanien „befragen“. Bezeichnenderweise nicht informiert wurden zwei der Komissionsvorsitzenden des Obersten Sowjet, die der 'Iswestija‘ nahestehen, darunter der letztes Jahr zurückgetretene, ehemalige Chefredakteur. Dieser erfuhr von der Aktion von dritter Seite. Es gelang ihm schließlich, Lukjanows Initiative zu stoppen und eine Vertagung sowie öffentliche Behandlung der ganzen Angelegenheit zu erzwingen.

Nicht „Halbleiter“ Jefimow war hier die eigentliche Triebfeder des Komplotts, schließt die 'Moscow News‘, deren Redaktion sich von der Angelegenheit besonders stark betroffen fühlt. Golembiowskij hatte nämlich den offenen Brief der 'Moscow News‘ in der mit Trauerrand erschienenen Ausgabe vom 20. Januar nach dem Blutbad von Vilnius mitunterzeichnet. Die Aktion in Litauen wird darin beschrieben, als „Verbrechen eines Regimes, das die Bühne nicht zu verlassen wünscht“. Auch die Unterschrift von Gorbatschows Wirtschaftsberater, des Akademiemitglieds Nikolaj Petrakow, zierte die entsprechende Seite. Von diesem trennte sich der Präsident noch am Erscheinungstag der Ausgabe. Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung seines neuen Außenministers erklärte er: „Das ,Regime‘, das heißt vor allen Dingen Gorbatschow“.