Das Alte stirbt schneller, als das Neue wächst

Das Ruhrgebiet mausert sich zur Aufsteigerregion/ Der gewaltige strukturelle Anpassungsprozeß dauert an/ Trotz großer Erfolge gibt es allerdings 100.000 Arbeitsplätze weniger als vor zehn Jahren/ Industrielle Neuansiedlungen werden wegen der Konkurrenz der neuen Länder schwieriger  ■ Von Walter Jakobs

Heinrich Böll beschrieb 1958 das Ruhrgebiet als die Region, „wo Weiß nur ein Traum ist“. Ein zutreffendes Bild jener Tage, denn in dem größten industriellen Ballungszentrum Europas kam der Ruß aus den zahlreichen Kokereien und der rotbraune Dreck, den die Stahlkocher ungefiltert in den Himmel bliesen, als feinkörniger dunkler Staub zu den Menschen zurück. Bilder von rußgeschwärzten Bergleuten und hart arbeitenden Stahlkochern prägten das Bild dieser Region.

Ein Image, das sich in den Köpfen der Menschen außerhalb des Reviers festsetzte, bis weit in die achtziger Jahre hinein. Zu Unrecht, denn die tatsächliche Lebens- und Arbeitswelt der 5,2 Millionen RevierbürgerInnen sieht schon lange anders aus. 1986 beschäftigte der Ruhrbergbau, der 1957 noch über eine halbe Million Menschen Arbeit und Brot bot, gerade noch 120.000 Bergleute, und in der Stahlindustrie verringerte sich die Zahl der Arbeitsplätze seit 1974 um etwa 100.000 auf jetzt noch rund 130.500.

In Essen, der mit 600.000 EinwohnerInnen größten Ruhrmetropole und einstigen Waffenschmiede der Nation, fördert von den ehemals 22 Zechen keine einzige mehr. Von den 200.000 Beschäftigten innerhalb des Dortmunder Stadtgebietes, wo die Stahlarbeiter noch Mitte der 80er Jahre bei Demonstrationen skandierten, „Stahl, Kohle, Bier — davon leben wir“, arbeiten 60 Prozent inzwischen im Dienstleistungsbereich. Waren in den 50er Jahren noch rund 80 Prozent der Wirtschaft im Revier zwischen Moers und Hamm direkt oder indirekt von den Montansektoren Kohle und Stahl abhängig, so sind es heute nur noch 30 Prozent.

Die Dinge haben sich verändert— ein atemberaubender Strukturwandel, der immer dann wieder für Schlagzeilen sorgte, wenn, wie etwa in Rheinhausen, die Betroffenen mit Vehemenz mehr forderten als eine sozial abgefederte Stillegung. Während der Montansektor schrumpfte, wuchs zwar das Neue, aber nicht schnell genug. Eine Ungleichzeitigkeit, die die Arbeitslosenzahlen im Revier Mitte der 80er Jahre auf bis zu 15 Prozent ansteigen ließ.

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Die Arbeitslosenquote lag im Februar mit 10,8 Prozent im Ruhrgebiet zwar immer noch um 2,5 Prozent höher als in Nordrhein- Westfalen insgesamt — im alten Bundesgebiet zählte man 7 Prozent Arbeitslose —, aber seit geraumer Zeit häufen sich doch die positiven Meldungen. So hat das 'Manager-Magazin‘ erst kürzlich eine Studie des Münchener Ifo-Instituts über die Wachstumszentren in Europa veröffentlicht, in der dem Ruhrgebiet die zweitbesten Aufstiegschancen eingeräumt werden. Im US-Magazin 'Time‘ vom 10. Dezember letzten Jahres wird eine amerikanische Studie über die Lebensqualität in den 100 größten Ballungszentren der Welt zitiert: Das Ruhrgebiet, man lese und staune, rangiert nach dem australischen Melbourne auf Platz 2— vor Sydney, Toronto, Washington, Madrid oder Paris.

Im guten alten Ruhrpott, dem Kaiser Wilhelm II. die Rolle des Arbeitshauses zugedacht hatte, ohne Universitäten und ohne Kasernen, werden heute 123.000 StudentInnen ausgebildet, obgleich die wilhelminische Verweigerungspolitik mit dem Abdanken des Kaiserreichs keineswegs ihr Ende fand. Es dauerte immerhin bis zum Jahre 1965, bevor die erste Universität im Pott in Bochum gegründet wurde. Es folgten neue Universitäten oder Gesamthochschulen in Dortmund, Essen und Duisburg. Inzwischen lehren und forschen 8.000 WissenschaftlerInnen in der Region, ein dicht gedrängtes Potential, das sich zu einer wesentlichen Antriebskraft des Strukturwandels entwickelt hat. Und nicht zuletzt die Anzeigenkampagne des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR), in der das Revier als „ein starkes Stück Deutschland“ vorgestellt wird, hat dazu beigetragen, daß man auch im Inland von diesem Wandel in den letzten Jahren Kenntnis genommen hat.

Kein Anlaß zur Euphorie

Über den Berg ist das Revier — trotz aller positiven Signale — indes noch lange nicht. Die mühsamen Fortschritte an der Beschäftigungsfront lassen ahnen, was auf die fünf neuen Länder noch alles zukommt. Einen Beleg für den Optimismus des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, der schon für 1995 in Deutschland Ost „keine wesentlichen ökonomischen Probleme“ mehr erwartet, bieten die Erfahrungen mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet jedenfalls nicht.

Ein Blick in die Statistik des Landesarbeitsamtes steht den optimistischen Erwartungen entgegen. Absolut verlor das Revier seit Ende 1980 im Bergbau 38.700, bei Eisen und Stahl 45.500 und auf dem Bau 30.400 Arbeitsplätze. Zwar wurden im Dienstleistungsbereich seit 1983 rund 83.000 neue Stellen geschaffen, aber insgesamt weist die Beschäftigungsbilanz von 1980 bis 1989 ein Minus von rund 100.000 Arbeitsplätzen auf. Das verarbeitende Gewerbe im Ruhrgebiet verzeichnete 1990 erstmals wieder per saldo einen bescheidenen Beschäftigungszuwachs von 1.300 Stellen, plus 0,3 Prozent.

Professor Paul Klemmer, Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, warnt angesichts der positiven Meldungen über das Revier denn auch vor „übersteigerter Euphorie“. Die strukturelle Krisenanfälligkeit könne trotz aller Fortschritte „keineswegs als beseitigt angesehen werden“. Bei Friedel Neuber, dem Chef der Westdeutschen Landesbank, hört sich das ähnlich an. Wegen der im Vergleich zu anderen Regionen nach wie vor überproportionalen Bedeutung der Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie hält Neuber das Revier immer noch für besonders störanfällig.

Tatsächlich scheint die Atempause für den gewandelten Kohlenpott zum erheblichen Teil außerhalb der Region liegenden Faktoren geschuldet. Die gute allgemeine Wirtschaftskonjunktur, der unerwartete Stahlboom der letzten drei Jahre und zusätzliche Absatzmöglichkeiten im Gefolge der Vereinigung zählen dazu.

„Mentale Anpassungs- hemmnisse“ überwunden

Politische Initiativen, etwa die von den Rheinhausener Stahlkochern erzwungene Ruhrgebietskonferenz, die weitere öffentliche Mittel mobilisierte, wirkten unterstützend, förderten den Wandel nicht zuletzt im mentalen Bereich. RWI-Chef Klemmer mißt der Überwindung von „eingefahrenen Denkstrukturen“ eine zentrale Bedeutung beim Wandel im Revier zu. „Mentale Anpassungshemmnisse“ seien überwunden und die früher herrschende Konfrontation zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft von der Kooperation abgelöst worden.

Als herausragendes Beispiel für diesen neuen Stil dient Klemmer das 1985 gegründete Technologiezentrum in Dortmund. Dort, in unmittelbarer Nähe zur Universiät, arbeiten inzwischen knapp 800 hochqualifizierte Beschäftigte in 35 Firmen an der Entwicklung und Produktion von High-Tech-Erzeugnissen. Der angegliederte Technologiepark bietet weiteren rund 2.000 Menschen Beschäftigung. Immer mehr Firmen, jüngst etwa Sony, siedeln sich wegen des günstigen technologischen Umfeldes hier an.

Während der exzellente Ruf, den das Dortmunder Technologiezentrum in der Branche inzwischen weltweit genießt, einen gewichtigen Standortvorteil darstellt und weiterhin Investoren anzieht, droht dem Wandlungsprozeß im übrigen Revier durch den Ansiedlungswettbewerb mit den neuen Bundesländern beträchtliche Unbill. Horst Niggemeier, SPD-Bürgermeister der Stadt Datteln, leidenschaftlicher Wiedervereinigungspolitiker von einst, ist das erste Opfer.

Niggemeier wähnte eine Mammutinvestition der zum RWE-Konzern gehörenden Heidelberger Druckmaschinen AG schon in trockenen Tüchern, als die deutsch-deutsche Entwicklung ihm dazwischenfunkte. 500 bis 700 Millionen Mark wollte das Unternehmen in Datteln- Waltrop investieren, 2.000 neue Arbeitsplätze beflügelten schon die Phantasie der Kommunalpolitiker — und nun ist nichts. Das neue Unternehmen wird in Brandenburg gebaut, weil die Investitionsförderung dort um 17,5 Prozent höher liegt als im Revier. Bei 500 Millionen Mark Investitionssumme gibt es im Osten, so hat Niggemeier nachgerechnet, 150 Millionen Mark, in Datteln aber nur 62,5 Millionen Mark aus dem Steuersäckel. Wenn sich der Trend gen Osten fortsetzt, fürchtet Niggemeier „eine weitere Vertiefung der schon vorhandenen Problemzonen in NRW“.

Wie sich die politischen Gewichte inzwischen verschoben haben, erleben in diesen Tagen die 1.000 Beschäftigten des Siemens-Zweigwerkes in Gladbeck, die gegen die Schließung „ihres“ Werkes protestieren. Der Kahlschlag des Elektromultis, dem größten privaten Arbeitgeber vor Ort, interessiert außerhalb der Stadtmauern keinen Menschen. Keine „Lichterkette durchs Revier“, keine Autobahnblockaden, keine Gebete von der Kanzel und auch keine Rockkonzerte, und gerade einmal der Autokorso von Mitte dieser Woche kam auch ins überregionale Fernsehen. Die Blicke der Nation richten sich nach drüben. Und wenn sie die dortige Misere leid werden, fallen sie bestimmt nicht auf Gladbeck.