Honeckers Abgang

■ Die sowjetische Fluchthilfe, die Bonner Empörung und der deutsche Kleinbürger

Honeckers Abgang Die sowjetische Fluchthilfe, die Bonner Empörung und der deutsche Kleinbürger

Späte ironische Wendung: Ausgerechnet die Macht entzieht Honecker den Fängen der deutschen Justiz, die — nach seiner eigenen altersstarren Interpretation — mit ihrem „Verrat“ an den Grundwerten des Sozialismus den Umbruch in der DDR erst provozierte. Immerhin haben die Sowjets mit der spektakulären Fluchthilfe ihren Standpunkt durchgesetzt, der Fall Honecker sei für sie in erster Linie ein humanitäres Problem. Wohlwollend ließe sich urteilen, die UdSSR übernehme mit dem Abgang des Ex-DDR-Chefs auch ein Stück tatsächlicher politischer Verantwortung, für den Schießbefehl, für den sich Honecker jetzt nicht mehr verantworten muß. Näher an die sowjetische Motivation heranreichen dürfte die Vermutung, daß die Aburteilung des höchsten Repräsentanten ihres Regimes die sowjetische Toleranzgrenze gegenüber den neuen politischen Verhältnissen in Deutschland überschritten hätte. Eine verquere Form von Selbstachtung. Dennoch hat das sowjetische Arrangement einen sympathischen Zug: Spät realisiert wird, was in der sozialistischen Tradition immer beschworen und selten praktiziert wurde — internationale Solidarität.

Demgegenüber ist die aufgeplusterte Empörung, die jetzt in Bonn zur Schau gestellt wird, weniger als die halbe Wahrheit. Es würde kaum verwundern, wenn Honeckers Flucht eine akzeptierte Bedingung für die problemlose Ratifizierung des 2+4-Vertrages darstellte, wie es Lambsdorff jetzt durchblicken ließ. Zwar hätte es ins populistische Kalkül gepaßt, mit einem Honecker-Prozeß den Schlußpunkt unter die quälende Vergangenheitsbewältigung zu setzen und diese zugleich auf den Exponenten des gescheiterten Regimes einzugrenzen. Doch ob — anläßlich eines solchen Tribunals — nicht noch einmal die guten Beziehungen des bundesdeutschen Establishments zu dem Angeklagten ins Gerede gekommen und deren selbstgerecht-moralisierender Habitus zerronnen wäre, dieses Risiko war den Bonnern sehr wohl bewußt.

Dennoch wird der straflose Abgang Honeckers bei den Opfern des Regimes einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Sie müssen sich um juristische Schuldfindung und Gerechtigkeit betrogen fühlen. Das gilt auch, wenn der Prozeß nur als flankierendes Spektakel für die Art von Vergangenheitsbewältigung gedacht war, die ansonsten mit Amnestieplänen und Schlußstrichmentalität operiert. Tatsächlich wäre der Honecker-Prozeß in erster Linie für diejenigen geführt worden, denen die Aburteilung des SED-Exponenten zur Verdrängung eigener Verstrickung gedient hätte. Derjenigen also, die wenige Monate, nachdem sie letztmals zum 40. Republikgeburtstag ihre Winkelemente geschwenkt hatten, Honecker mit ihren widerlichen Racheparolen aus dem kirchlichen Asyl und so in die Obhut der Sowjets trieben. Allein daß dieser Urtyp des gehässigen Deutschen jetzt um den selbstentlastenden Genuß von Honeckers Aburteilung gebracht wurde, mag die sowjetische Entscheidung rechtfertigen. Matthias Geis