Die britische Justiz liegt in Scherben

Nach dem Freispruch der Birmingham Six wurde Überprüfung des Rechtssystems angeordnet/ Die sechs Iren saßen über 16 Jahre unschuldig im Gefängnis/ Mischung aus Jubel und Wut vor dem Londoner Old Bailey und auf den Straßen Dublins  ■ Von Ralf Sotscheck

„Wir haben lange auf diesen Tag gewartet — 16 Jahre lang.“ Das waren Richard McIlkennys erste Worte, nachdem das Londoner Berufungsgericht die Urteile gegen die Birmingham Six am Donnerstag nachmittag aufgehoben hatte. Eine halbe Stunde später waren die sechs Iren frei. Sie wurden vor dem Old Bailey von Tausenden Menschen erwartet, die in ohrenbetäubenden Jubel ausbrachen, als sich die Türen des Gerichtsgebäudes öffneten. Doch die Freude war mit Wut darüber gemischt, daß die britische Justiz über 16 Jahre lang an den Fehlurteilen festgehalten hat.

Während einer improvisierten Pressekonferenz auf der abgesperrten Straße am Old Bailey sagte Paddy Joe Hill: „Die Polizei hat uns von Anfang an gesagt, sie wüßten, daß wir unschuldig sind. Sie sagten, sie hätten uns für ihr abgekartertes Spiel ausgewählt, um die Leute da drinnen im Gericht zufriedenzustellen. Darum ging es. Das ist deren Gerechtigkeit. Ich glaube, die da drinnen sind weder intelligent noch ehrlich genug, um das Wort überhaupt zu buchstabieren, geschweige denn es anzuwenden.“ Die Birmingham Six wurden 1975 für die Bombenanschläge der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) auf zwei Kneipen in Birmingham, bei denen 21 Menschen getötet worden waren, zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Erst zehn Jahre später kamen Zweifel an dem Urteil auf, nachdem der Labour-Abgeordnete Chris Mullin in einer Fernsehsendung die Beweiskette schwer erschüttert hatte. Darüber hinaus hatte Mullin die wahren Täter in Irland ausfindig gemacht und mit ihnen gesprochen. Dennoch wies der oberste britische Richter, Lord Lane, die Berufung im Januar 1988 zurück. In der neuntägigen dritten Berufungsverhandlung konnte die Verteidigung nun endlich das Ausmaß dieses Justizskandals nachweisen. Staatsanwälte und Richter hatten von Anfang an entscheidende Entlastungsbeweise verschwiegen. So stellte sich heraus, daß der forensische Test zum Nachweis von Sprengstoffspuren bereits positiv reagiert hatte, bevor die Abstriche von den Händen der Angeklagten überhaupt zu dem Lösungsmittel hinzugegeben worden waren. Ein Wissenschaftler wies im Januar nach, daß der „Greiss-Test“ auch auf Seife reagiert, mit der die Untersuchungsbehälter ausgewaschen worden waren. Das zweite Standbein der Anklage, die „Geständnisse“ von vier der Birmingham Six, ist bereits seit 1989 diskreditiert: Bei einer polizeiinternen Untersuchung hatte sich herausgestellt, daß die Einheit, die für die Verhöre der Angeklagten verantwortlich war, in zahlreichen anderen Fällen Geständnisse gefälscht oder gewaltsam erzwungen und vor Gericht Meineide geleistet hatte. Die Einheit wurde daraufhin aufgelöst.

Staatsanwalt Graham Boal stimmte der Verteidigung in fast allen Punkten zu. Dennoch forderte er das Gericht in seinem abschließenden Plädoyer auf, die Urteile zwar als „unbefriedigend, jedoch stichhaltig“ zu erklären. Richter Lloyd wies das jedoch als „Versuch der Schadensbegrenzung“ zurück. Die Begründung für das Urteil vom Donnerstag erfolgt erst in der kommenden Woche. Die irische Regierung begrüßte die Freilassung und wünschte „den Männern und ihren Familien Frieden und Glück für die Zukunft“. Die Birmingham Six warfen der Dubliner Regierung jedoch vor, sie im Stich gelassen zu haben. „Ich habe nicht die Absicht, den irischen Premierminister Charles Haughey zu treffen“, sagte Hill.

In Dublin hatte sich der Freispruch in Windeseile herumgesprochen. Auf der O'Connell Street, der Hauptstraße im Zentrum der Stadt, wurde mitten im Berufsverkehr ein Straßenfest mit Live-Musik organisiert, an dem Tausende von Menschen teilnahmen. Die RednerInnen von den Solidaritätskomitees wiesen jedoch darauf hin, daß zahlreiche weitere Iren und Irinnen immer noch in britischen Gefängnissen sitzen, obwohl sie unschuldig sind. Im nordirischen Derry wurde die Rückkehr Gerry Hunters in seine Heimatstadt gestern zum Triumphzug. Hunter will zunächst „ein paar Wochen Ferien machen, um die Kinder wieder kennenzulernen“. Billy Power, dessen Frau im vergangenen Jahr die Scheidung eingereicht hat, sagte: „Ich werde mich zurückziehen, um Bilanz zu ziehen, bevor ich irgendeine Entscheidung über meine Zukunft treffe.“ Paul Hill, der im ähnlichen Fall der Guildford Four 1989 nach 15 Jahren Haft freigesprochen worden war, sprach gestern über seine eigenen Erfahrungen nach der Entlassung: „Das erschreckendste Erlebnis wird es für sie sein, wenn sie sich das erste Mal alleine hinauswagen. Ich hatte nach meiner Entlassung Angst davor, die Straße zu überqueren. Ein normaler Einkauf wird zum Problem. Man versteht den Wert des Geldes nicht mehr und muß sich erst daran gewöhnen, wieder irgendetwas zu besitzen.“

Die britische Justiz liegt nach der Aufhebung des Urteils gegen die Birmingham Six in Scherben. Verschiedene konservative Abgeordnete forderten den Rücktritt Lord Lanes. Bereits eine Stunde nach der Freilassung der sechs Iren setzte Innenminister Kenneth Baker eine „Königliche Kommission zur Untersuchung der Strafjustiz“ in England und Wales ein, die innerhalb von zwei Jahren einen Bericht erstellen soll. Roy Hattersley, der Innenminister im Labour-Schattenkabinett, warf der Regierung jedoch vor, dadurch die dringend notwendige Überprüfung der britischen Justiz zu verzögern. Er sagte: „Der Fall der Birmingham Six hat eine grundlegende Schwäche unseres Rechtssystems aufgedeckt.“