Bringt das Referendum die Erneuerung?

Druck auf die Abstimmenden in Kasernen und Betrieben/ Zweideutige Formulierung der Referendumsfrage  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Laßt uns unsere Kinder verteidigen“, „Das Vaterland steht auf dem Spiel“, die Schlagzeilen der meisten zentralen Zeitungen der Sowjetunion lassen keinen Zweifel daran, daß im Falle eines „falschen“ Abstimmungsergebnisses beim unionsweiten Referendum am nächsten Sonntag der Untergang einer jahrhundertealten Kultur des Zusammenspiels Rußlands mit seinem Nachbarn droht. Sein oder nicht sein einer konstruktiven Staatenunion — ist das hier wirklich die Frage?

Wörtlich lautet die Formulierung, nach der die Sowjetbürger ihr Kreuzchen malen sollen: „Halten Sie die Erhaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberechtigter, souveräner Republiken für notwendig, in der die Rechte und Freiheiten der Menschen jeder beliebigen Nationalität in vollem Maße garantiert sein werden?“ Da sind die Wörtchen „Erhaltung“, „sozialistisch“, „Sowjet-“ und „erneuert“. „Gleich vier Pferdefüße in der Frage und darauf sollen wir eine einzige Antwort geben?“, wundert sich ein Leser der alternativen Moskauer Tageszeitung 'Koranty‘. Die Eigenschaftswörter „sozialistisch“ „sowjet...“ hat schon die Hälfte aller bisherigen Sowjetrepubliken aus ihrer offiziellen Bezeichnung gestrichen. Abgesehen von den drei baltischen Staaten, Armenien, Georgien und der Moldau- Republik, die ohnehin nicht an dieser Abstimmung teilnehmen wollen, hat man daher in der Ukraine und Usbekistan beschlossen, die Reizwörter wegzulassen. Und das Tätigkeitswort „erhalten“? Ist es nun die alte UdSSR, die hier erhalten werden soll, oder etwas Neues? „Wenn ich mit ,Ja‘ antworte, erteile ich der KPdSU ein neues Vertrauensmandat, die unser Land in seinen gegenseitigen katastrophalen Zustand gebracht hat. Antworte ich aber mit ,Nein‘, dann bin ich angeblich gegen eine freie Union unserer Völker und für den Niedergang des Landes“, empört sich ein anderer Leser. Kürzlich erklärte der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Lukjanow, juristisch betrachtet bedeute hier jedes „Nein“ ein „Ja“ für die Sowjetunion in ihrer heutigen, „unerneuerten Gestalt“. Mutet die UdSSR-Führung ihren Einwohnern einen Schildbürgerstreich zu?

Das hier nicht nur Wortspäßchen stattfinden, sondern auch ein realer Machtkampf, zeigen die Erlasse des Obersten UdSSR-Sowjet. Während noch Ende Februar die örtlichen Sowjets im ganzen Lande verpflichtet wurden, die Durchführung des Referendums zu organisieren, hieß es am ersten März, daß auch Produktionsbetriebe und Heeresabteilungen hierzu berechtigt sind. Diese Bestimmung soll vor allem in den Garnisonen der abtrünnigen Republiken wirken, in denen der Gang zur Urne — abgeschirmt gegen die umwohnenden Bürger — zum Teil schon begonnen hat. Schon jetzt läßt sich voraussehen, daß hier nicht wengig Zündstoff angelegt ist. In der Moldaurepublik und in Littauen kam es zu ersten gewalttätigen Zwischenfällen. Daß persönlich Druck in der Referendumsfrage seitens der Vorgesetzten auf die Armeeangehörigen und ihre Familien ausgeübt wird, sickerte durch mancherlei Kanäle. In den neun Sowjetrepubliken, die freiwillig am Referendum teilnehmen, leben ohnehin 90 Prozent der Wahlberechtigten. Von denen, die abstimmen, so schätzen die Fachleute, werden sich mindestens 60 Prozent doch für die „erneuerte Union“ entscheiden — zu viele traditionelle Werte spricht die Referendumsfrage an.

Anders stellt sich die Lage in der Russischen Förderation (RSSSR) dar, besonders in Leningrad und Moskau, in denen eine Mehrheit von Einwohnern der „Bewegung demokratisches Rußland“ oder den neuen Parteien nach westlichem vorbild anhängt. Mit einem „Nein“ zur Referendumsfrage verbinden diese Bürger ein „Nein“ zur Gorbatschowschen Nationalitätenpolitik. Mit „Ja“ werden sie allerdings auf eine zweite Frage stimmen, die nur in Rußland gestellt wird: „Halten sie die Einführung des Postens eines Präsidenten der RSFSR, der durch allgemeine Wahlen bestimmt wird, für notwendig?“ Im Ringen der zentralen UdSSR-Regierung mit der russischen Führungsspitze wäre eine positive Entscheidung in dieser Frage zweifellos ein Schlag für Gorbatschow. Boris Jelzin hingegen könnte auf diese Weise, Meinungsumfragen zufolge, nicht nur sein Amt legitimieren, sondern auch seine persönlichen Macht stärken. Der Umstand, daß einige kleine nationale Autonomien innerhalb der UdSSR, wie Nord-Ossetien, Tschtscheno-Ingoschische-Republik und Tatarstan dem speziell russischen Referendum die Gefolgschaft versagen, kann daher zumindest auf Unterstützung seitens der UdSSR- Zentralregierung rechnen.

Wird also in einigen Tagen eine UdSSR mit neuem Gesicht erwartet? Möglicherweise werden die Mächtigen im Staat um ein paar Argumente und die Randzonen um ein paar Konfliktherde reicher sein. Die Narben eines Organismus ohne elementaren sozialen Konsensus werden bleiben, ebenso die verschiedenen Positionen der Republiken zum Zentrum. Und realistisch teilen und zusammenführen kann man sie nur auf einem langen und steinigen Weg der kleinen Kompromisse.