Im Irak ist jeder von den Kriegsschäden betroffen

Ohne Öl kein Geld, ohne Geld kein Wiederaufbau, ohne Wiederaufbau kein Benzin und kein Strom, ohne Benzin und Strom kein Wasser, ohne Wasser...  ■ Aus Bagdad Khalil Abied

„Sag allen: Wir haben Hunger, wir haben nichts zu essen!“ ruft mir eine Frau in dem Bagdader Armenviertel Ademya zu, die mich an meinem Fotoapparat als Journalisten erkannt hat. Im Nu bin ich von einer Gruppe von etwa einem Dutzend Frauen umringt. Alle klagen sie offen über ihre Lebensbedingungen und scheuen sich selbst in diesem eher von religiösen Traditionen geprägten Viertel nicht, einen wildfremden Mann und Pressevertreter auf der Straße anzusprechen. Die Barrieren fallen, die Leute reden mehr, lauter und haben weniger Angst.

Die 40jährige Umm Hassan, die mich zuerst angesprochen hatte, lädt mich zum Tee ein: „Zu Hause können wir besser reden.“ Sie wohnt mit ihrer fünfköpfigen Familie in einem einstöckigen Gebäude mit drei nur spärlich möblierten Zimmern. Ihr Mann, Abu Hassan, ist Metzger mit einem eigenen Geschäft, wurde aber im August als Reservist zur Armee eingezogen. Der Laden ist jetzt geschlossen, die Familie muß mit seinem Sold auskommen, 100 Dinar im Monat. Seit acht Wochen hat Umm Hassan überhaupt kein Geld mehr gesehen. Und die Preise sind ins Astronomische gestiegen. „Ich brauche allein 25 Dinar am Tag, um die Familie zu ernähren. Das bißchen Geld, das wir gespart haben, ist weg. „Wir haben nichts“, klagt sie und zerrt mich in die Küche, damit ich mich mit eigenen Augen von der Leere in den Regalen überzeugen kann.

Umm Hassan hat bereits im Krieg gegen den Iran zwei Brüder verloren; nebem ihrem Mann sind zwei weitere Brüder jetzt mit der Armee in Basra. „Wenn ihnen was passiert, dann werde ich verrückt, ich bringe mich um“, sagt sie. Auch Abu Hassan hat im letzten Krieg einen Bruder verloren und einen anderen jetzt an der Front.

Umm Hassan stellt mir ihre Tochter Souha vor. Sie ist sechzehn Jahre alt und damit im heiratsfähigen Alter. Für Kleider und Schmuck fehlt das Geld. Doch Souha, die verlegen lacht, als das Thema Heirat angesprochen wird, will lieber studieren.

Aber wie alle irakischen SchülerInnen und StudentInnen kann sie vorerst nicht an Bildung und Ausbildung denken. Alle Bildungseinrichtungen des Landes sind seit Kriegsbeginn geschlossen. Vor zwei Wochen ordnete die irakische Führung an, die Schulen und Universitäten am 9. März wieder zu öffnen. Doch daraus wurde nichts. Der Grund: Benzinmangel. Der öffentliche und private Nahverkehr ist völlig zusammengebrochen. Aber auch die Unruhen in einigen Städten und Angst vor weiteren Protesten mögen bei der Rücknahme der Regierungsentscheidung eine Rolle gespielt haben.

Die irakische Führung bemüht sich, die Bevölkerung von ihren Anstrengungen zu überzeugen, das Leben wieder zu normalisieren. Die Propagandamaschinerie berichtet tagtäglich über Sitzungen der Führung, die sich mit Wiederaufbaufragen beschäftigen. Doch zwischen Propaganda und Realität klafft ein tiefer Abgrund.

Eines der dringlichsten Probleme ist die Wiederankurbelung der Ölproduktion, der wichtigsten Einnahmequelle des Landes. Die bedeutendsten irakischen Anlagen liegen in der südirakischen Stadt Basra und in Kirkuk im Norden des Landes. Die Installationen bei Basra wurden bereits während des Krieges gegen den Iran schwer beschädigt; diesmal wurden auch die in Kirkuk getroffen. Die dreihundert Kilometer von Bagdad entfernt gelegene Stadt trug bereits vor 3.600 Jahren wegen der reichen Ölvorkommen den Namen Gir Gir, was in der Sprache der Sumerer „Ewiges Feuer“ bedeutet. Der Name der Provinz stammt hingegen aus der jüngsten politischen Geschichte des Landes: Sie heißt Al Taamin, zu deutsch „Verstaatlichung“, und erinnert an die Nationalisierung der Ölwirtschaft im Jahre 1972, ein Schritt, der damals eine neunmonatige Wirtschaftsblockade westlicher Länder nach sich zog.

Bei einer Fahrt durch Kirkuk fällt die Zerstörung einer Pumpstation ins Auge. B-52-Bomber und Cruise Missiles haben große Krater in den Boden geschlagen, die nun mit Wasser gefüllt sind. Der Manager der nun in Trümmern liegenden Anlage, Sahi Abu Udai, erklärt, daß diese Station zu einer Anlage gehört, die nach der Zerstörung von Basra fünfzig Prozent des irakischen Erdöls produzierte, das über die Türkei exportiert wird. „Sie bombardierten die Pumpen in den ersten Minuten des Angriffs, und danach noch mehrmals“, sagt Abu Udai. „Zwanzig Personen kamen ums Leben, alle Pumpen wurden zerstört.“ Wann die Anlage wieder arbeiten wird, kann er nicht sagen, das werde davon abhängen, ob es Ersatzteile gibt, Jahre könne das dauern. Die meisten Raffinerien, die zu dem Komplex gehören, wurden ebenfalls getroffen. Weitgehend zerstört wurden auch die Raffinerien in Beigi und Mossul, ebenfalls im Norden des Landes.

Wenn die Sanktionen gegen den Irak nicht aufgehoben werden, wird das Land immense Probleme haben, die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Nicht nur Abu Udai ist auf den Import von Ersatzteilen angewiesen. Die Zerstörung der Ölanlagen legt nicht nur die industrielle Produktion lahm, sondern zeigt auch in der Landwirtschaft Folgen, da es kein Benzin für Nutzfahrzeuge und die Wasserpumpen gibt. Ein weiteres Problem ist die Zerstörung von zehn Dämmen, darunter die in der Städten Al-Kut, Al Ramadi, Samara und Maschchab. Nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums können nun große landwirtschaftliche Nutzflächen nicht bewässert werden. Die Bombardierung zahlreicher Elektrizitätswerke hat zudem zur Folge, daß die Lagerung von leichtverderblichen Nahrungsmitteln wie Obst, Gemüse und Fleisch nahezu unmöglich ist.

Ein Ingenieur, der in dem Elektrizitätswerk von Al Doura arbeitet, schätzt, daß es drei Jahre dauern wird, bis die Anlage wieder voll betriebsfähig ist. Das Werk, das 25 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt, hat auch Teile Bagdads mit Strom beliefert. Ohne Strom können aber auch die Wasserwerke nicht arbeiten, und in vielen Stadtvierteln und Dörfern müssen sich die Menschen mit schmutzigem Flußwasser behelfen.

Die Folge sind Krankheiten wie Durchfall, Lungen- und Darmentzündungen. Nun drohen auch Cholera und Typhus. In den Krankenhäusern ist die Lage ohnehin katastrophal. Viele können ihren Stromgenerator nur noch zwei Stunden am Tag betreiben, für die allernotwendigsten Operationen und Dienstleistungen. Medikamemte, die gekühlt gelagert werden müssen, können nicht mehr benutzt werden und fehlen allenthalben. Die Hospitäler sind teilweise dermaßen überfüllt, daß auch religiöse Tabus außer Acht gelassen werden und Männer und Frauen in einem Zimmer liegen.

Letztendlich sind alle Bereiche des täglichen Lebens im Irak von den Folgen des Krieges betroffen, ob es nun die Preissteigerungen sind, die Zerstörung des Verkehrsnetzes, die immensen Folgen des Ausfalls der Ölproduktion oder Stromerzeugung. In einer Zeit, in der zwischen ziviler und militärischer Infrastruktur nicht mehr unterschieden werden kann, ist letztendlich die gesamte Bevölkerung in der einen oder anderen Weise Opfer der sogenannten „chirurgischen Schläge“ — und dies noch auf Jahre hinaus.